Der überforderte Kontinent
Krieg, falsche Hoffnungen und die Planlosigkeit der EU führten zum großen Flüchtlings-Chaos.
Foto: Reuters / Antonio Bronic
Flüchtlinge überall – das ist der Eindruck, der im Spätsommer 2015 entsteht: Zehntau- sende Menschen bahnen sich ihren Weg nach Mitteleuropa. Auch ein Jahr später den- ken viele beim Wort "Flüchtlingskrise" vor allem an Frauen und Kinder, die mit Sack und Pack durch Österreich marschieren und mit Zügen und Bussen nach Deutschland weiterreisen.Der Krieg in Syrien mit täglichen Gefechten, zerbombten Städten, Giftgas, Folter, Hunger und IS-Terror dauerte damals bereits über vier Jahre. Warum also
machten sich erst im Sommer 2015 derart viele Menschen auf den Weg nach Europa? Kilian Kleinschmidt hat eine Antwort. Der 54-jährige Deutsche hat jahrelang für die UNO in Krisenregionen gearbeitet, das weltweit zweitgrößte Flüchtlingslager im jordanischen Zaatari geleitet und Österreichs Regierung beraten. "Seit 2014 hat es klar an humanitärer Hilfe in den Nachbarländern Syriens gefehlt, da die UNO- Mitglieder freiwillige Zahlungen reduziert haben", erläutert Kleinschmidt gegenüber dem KURIER. Die Grundversorgung der Flüchtlinge gerade außerhalb der
Millionen Syrer blieben in Flüchtlingscamps in Jordanien.
großen Lager, für Menschen in privaten Unterkünften, konnte nicht aufrechterhalten werden.
Keine Perspektiven
Es fehlte an allem – wegen zahlreicher Beschränkungen für Flüchtlinge in den Gastländern auch an Jobs, Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten. Zudem verschärften der Libanon und Jordanien unter dem Druck von Millionen Flüchtlingen die Einreisebestimmungen für Syrer. "Immer mehr Syrer begriffen, der Krieg wird noch lange dauern", nennt Kleinschmidt einen weiteren Grund für den Massen-Aufbruch. Viele hätten da ihr letztes Geld zusammengekratzt und ihre Heimat bzw. die Flüchtlingslager verlassen.
"Die Syrer haben die Welle ausgelöst und andere sind mitgeschwommen" – unterstützt von geschäftstüchtigen und oft skrupellosen Menschenschmugglern. Nach Angaben der
europäischen Grenzschutzagentur Frontex kamen im Zuge der starken Migration entlang der Balkanroute im Vorjahr etwa ungewöhnlich viele Kosovaren in Mitteleuropa an – die allerdings in der Regel kein Asyl bekommen.
Ermutigt wurden die Flüchtenden durch das anfängliche Durchwinken Tausender Menschen durch Österreich sowie durch Angela Merkels Ankündigung Ende August, keine Flüchtlinge mehr in andere EU-Länder zurückzuschicken – sowie durch ihr entschlossenes "Wir schaffen das!" Als später erste Grenzen
Kilian Kleinschmidt beriet Österreich in der Flüchtlingskrise.
dichtgemacht wurden und sich Berichte über neue Grenzsperren verbreiteten, entschieden sich weitere Menschen in einer Art "Torschlusspanik" zur Flucht.
Als Zielland nannte ein Großteil der Menschen Deutschland und Österreich. Das "Wir schaffen das!" der deutschen Kanzlerin und weltweit geteilte Selfies von Asylwerbern mit "Mama Merkel" wurden als Einladung empfunden. "In Deutschland gibt es viele freie Arbeitsplätze und Lehrstellen. Da hat sich das Gerücht verbreitet: Wir bekommen dort sofort Jobs", erklärt Kleinschmidt, der derzeit mit der deutschen Regierung zusammenarbeitet.
Bedeutend war auch das Gefühl, dass hier alles sicher ist, sowie familiäre Beziehungen zum Land – was auch für Österreich galt. "In Bezug auf Frankreich oder Belgien etwa wussten die Flüchtlinge von den dortigen Problemen mit der Integration und von den Gettos."
Trotz aller anfänglicher Empathie und dem Einsatz Tausender Freiwilliger war die EU überfordert.
Große Uneinigkeit
Trotz aller anfänglicher Empathie und dem Einsatz Tausender Freiwilliger war die EU überfordert – was jüngst auch der deutsche Justizminister Heiko Maas einräumte. Zu unterschiedlich waren die Standpunkte
der Mitgliedsländer: Da gab es das massiv betroffene Griechenland, das Solidarität einforderte; anfangs mitfühlende Länder wie Deutschland und Österreich; abwartende Staaten wie Großbritannien sowie klar gegen Flüchtlinge auftretende Staaten im Osten, allen voran Ungarn.
Überraschend war die Flüchtlingskrise jedenfalls nicht gekommen. Obwohl die Lage in Nahost bekannt war, hatte die EU zugewartet. "Die Hilfsorganisationen hatten schon lange gesagt, dass da etwas auf uns zukommt, aber sie haben es nicht laut genug gesagt", so Kilian Kleinschmidt. Er sei überrascht gewesen, "wie schwach die Logistik innerhalb der EU war, um die Leute zu erfassen". Immerhin seien die Menschen, die gekommen seien, keine Massen im Vergleich zu den Millionen Syrern in Nahost und der Türkei. "Eine oder eineinhalb Millionen, das ist ja nix. Jeden Tag werden mehr Menschen auf europäischen Flughäfen abgefertigt."
Foto: Reuters / Muhammad Hamed
Foto: APA / BMI / Alexander Tuma