Das Jugendamt und seine Kinder


Von Yvonne Widler

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Sie ist eines der heikelsten Themen unserer Gesellschaft und einer der massivsten Eingriffe, den Vater Staat vornehmen darf: Die Kindesabnahme. Das Jugendamt sieht sich immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert, wenn es Familien „zerreißt“. Auf der anderen Seite hagelt es Vorwürfe, wenn zu lange gewartet wird und ein Unglück geschieht. Österreichweit waren es in den letzten drei Jahren jeweils rund 4.000 Kinder, die aufgrund einer gerichtlichen Verfügung bei Pflegeeltern oder in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebracht werden.

Ein Blick in unser System in vier Teilen.

Teil1: Besuch beim Jugendamt

Die Namen der toten Kinder kennt ganz Österreich. Luca-Elias, 17 Monate alt, misshandelt und missbraucht vom Stiefvater. Amanda, 15 Monate alt, durch Schläge auf den Kopf so schwer verletzt, dass das Baby im Krankenhaus starb. Melvin, zwei Jahre alt, tödlich in der Badewanne verbrüht vom Stiefvater. Cain, drei Jahre alt, totgeschlagen vom Lebensgefährten der Mutter.


In all diesen Fällen kannte das Jugendamt die Familien. Doch während die einen den Behörden vorwerfen, sie würden oft zu lange warten und dadurch das Schicksal solcher Kinder besiegeln, prangern die anderen Willkür und zu schnelles Auseinanderreißen von Familien an. Im Jahr 2014 erschien das berüchtigte „Schwarzbuch der Jugendwohlfahrt“. Die Autoren rechnen mit den Beamten ab und zeigen anhand von 67 Fällen katastrophale Kindesabnahmen und ihre Folgen auf. Von Seelenmord und Menschenrechtsverletzungen ist da die Rede. Die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits ließ die Kritik nur bedingt gelten, räumte aber ein, dass schlichtweg mehr Personal benötigt wird. Sie führte Wien allerdings als positives Beispiel an.

Das Wiener Jugendamt und wie es arbeitet

„Wir können nicht in die Zukunft schauen“, sagt Dunja Gharwal, die seit 1998 als Sozialarbeiterin tätig ist. Ihre jüngere Kollegin Jana Baumgartner nickt. „Wir können nicht vorhersagen, was passieren wird. Wir dürfen nicht alle Kinder abnehmen, wo sich etwas abzeichnen könnte.“ Die beiden Frauen arbeiten für das Wiener Jugendamt. Gharwal in der Zentrale im dritten Bezirk und Baumgartner in der Simmeringer Regionalstelle. Sie wissen um die immer wieder kehrenden Vorwürfe. „Über die verhinderten Unglücke spricht man auch selten“, sagt Gharwal.


Gharwal und Baumgartner haben Dinge gesehen, die wir uns nicht einmal vorstellen wollen. Manchmal müssen sie innerhalb von Sekunden entscheiden, was besser für ein Kind ist: bei der Familie zu bleiben oder rasch in Obsorge genommen zu werden. „Vor allem, wenn wir die Familie noch nicht kennen, ist das eine der schwierigsten Situationen“, sagt Baumgartner. Aber auch eine der seltensten. Denn solche Akutsituationen seien nicht die Norm.

Jana Baumgartner

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Kein Trauma mehr

Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Kindesabnahmen. Jene, die spontan entschieden werden müssen, und die geplanten, die detailliert vorbereitet werden. Erste sind eine große Herausforderung für die Sozialarbeiter. In sehr kurzer Zeit müssen sie sich ein Gesamtbild der Situation verschaffen. Doch die Vorstellung, die manche noch im Kopf hätten, dass ein Kind zuhause den Eltern aus den Armen gerissen wird, die sei falsch. Oberstes Prinzip sei es, das Kind so wenig wie möglich zusätzlich zu traumatisieren.


Wird die Polizei beispielsweise von Nachbarn gerufen, weil nebenan laut gestritten oder Kinderweinen zu hören sei, so entscheide diese zunächst vor Ort. Eines der meist genützten Instrumente der De-eskalierung ist dann die Wegweisung eines Elternteils inklusive Betretungsverbot. Das Kind kann so zuhause bleiben. „Sind Kinder involviert unterrichtet die Polizei generell immer das Jugendamt, wir sehen uns die Situation dann genauer an“, sagt Baumgartner. „Aber für eine Kindesabnahme braucht es weit mehr als Streit zwischen den Eltern.“ Sollte jedoch in einer Akutsituation, wenn beispielsweise beide Eltern geistig weggetreten sind oder gar nicht ansprechbar, eine Wegweisung nicht infrage kommen, bringt die Polizei das Kind in eines der Krisenzentren, die rund um die Uhr geöffnet haben. Dann übernimmt das Jugendamt den Fall.

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Am häufigsten jedoch bereiten Gharwal und Baumgartner die Kindesabnahmen akribisch vor. Wie viele sie schon durchführen mussten oder begleitend dabei waren, das wissen sie nicht mehr. Österreichweit leben rund 11.000 Kinder derzeit nicht in ihren Familien, sondern wurden vom Jugendamt fremduntergebracht. „Nichts wird dem Zufall überlassen, wenn wir eine Abnahme planen“, sagt Baumgartner. Das Krisenzentrum bereitet sich schon im Vorfeld auf den individuellen Alltag des Kindes vor: Fahrtendienste, Therapien, Medikamente, sonstige Bedürfnisse.

Eskalationen kann man nicht vorhersehen

Wenn die Wiener Sozialarbeiterinnen Kinder aus ihren Familien holen, dann machen sie das immer zu zweit. Davor gibt es zahlreiche Fallbesprechungen. Ist es ein besonders heikler Fall, dann wird die Polizei als Assistenz mitgenommen. Sind mehrere Kinder involviert, steht für jedes eine eigene Kollegin zur Verfügung. Geschwisterkinder werden - wenn möglich - nicht getrennt untergebracht.


Oberste Priorität hat das Kind, auch in der wohl furchtbarsten Situation, die es für ein Kind geben kann. „Wir versuchen für die Abnahmen jene Orte zu meiden, die die Kinder regelmäßig besuchen“, sagt Baumgartner. Im Idealfall finden sie in den Regionalstellen des Jugendamtes statt. Manchmal in einem Park, auf einem Spielplatz, im Spital. Wenn es nicht anders geht in der Schule oder im Kindergarten. Kooperationsbereite Eltern erscheinen zu einem ausgemachten Termin mit dem Kind beim Jugendamt. „Das funktioniert aber nicht immer“, sagt Gharwal.  Man könne es drehen und wenden wie man will, eine Kindesabnahme sei nicht Schönes und immer eine Belastung für das Kind, egal wie vorsichtig man diese gestaltet.


Eskalationen kann man nie vorhersehen. Stimmen die Eltern einer Kindesabnahme nicht zu, muss das Jugendamt innerhalb von acht Tagen einen entsprechenden Antrag bei Gericht einreichen und diese bewilligen lassen. Dazu muss die betreuende Sozialarbeiterin als eine Art Gutachterin fungieren und detailliert festhalten, wie die Situation in der Familie aussieht. „Da braucht es eine sehr professionelle und gute Formulierung. Da ist nichts mit Intuition, das wird im Volksmund ja gerne gesagt, dass wir so agieren würden“, sagt Gharwal. „Da ist wirklich sehr differenziert beschrieben, wie wir gearbeitet haben, warum wir welche Schritte gesetzt haben. Warum welche Maßnahmen nicht funktioniert haben und warum wir letztlich zu dieser Entscheidung gekommen sind“, ergänzt Baumgartner.

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Schimmel, Kot und eingewachsene Nägel

Vernachlässigung, psychische und körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch. Das sind die Gründe für Kindesabnahmen. „Vernachlässigung ist in Wien mit Abstand der häufigste Grund“, sagt Baumgartner. Sie spiele sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab und sei besonders herausfordernd, da man die Spuren erst spät erkennt. Anders als bei körperlicher Gewalt.


Baumgartner und Gharwal reden nicht besonders gerne darüber, was sie über die Jahre in den Wohnzimmern vorgefunden haben. „Die hygienischen Bedingungen sind oft katastrophal, das kann man sich gar nicht vorstellen“, sagt Baumgartner. Kinder, die nicht in die Schule gehen. Babies ohne jegliche Körperpflege. Eingewachsene Fingernägel. Drogen. Unterlassene Arztbesuche. Kleinkinder, die stundenlang nichts zu essen oder trinken bekommen haben. Massive Gesundheitsgefährdungen also.  Messi-Wohnungen mit klebrigen Fußböden. Essensreste, Müllberge, Hunde- und Katzenkot überall in der Wohnung verstreut, Kakerlaken, Schimmel, beißender Gestank. Kinderzimmer, wo nicht ein einziges Spielzeug zu finden ist. Eltern, die noch nie mit ihrem Kind gespielt haben.

Soziale Diagnostik nennt sich das Instrument der Sozialarbeiterinnen, um die familiäre Lage und deren Verlauf zu bewerten. Wie sieht der Sicherheitsring des Kindes aus? Gibt es Geschwister und wie ist deren Verfassung? Wie funktioniert die soziale Integration im sonstigen Umfeld des Kindes? „Wir reden mit der Schule oder dem Kindergarten, dort finden wir oft eine hohe Kompetenz, wenn es um Veränderungen im Verhalten der Kinder geht“, sagt Gharwal. Die Sozialarbeiterinnen erstellen Netzwerkkarten, Biographische Balken, sehen sich die Familienmitglieder an und deren unterschiedliche Wirklichkeiten.  „Dadurch sehen wir, ob die Geschichten zusammenpassen“, sagt Baumgartner. Gibt es körperliche Auffälligkeiten, werden Mediziner hinzugezogen. Auch Kinderschutzzentren in Spitälern sind Informationsquellen für Baumgartner und Gharwal. Alles wird fotografisch festgehalten. „Dokumentation ist generell ein großer Teil unserer Arbeit“, sagt Baumgartner.

Kinder lügen nicht

„Bei Babys oder Kleinkindern ist es so, dass gewisse Körperhaltungen und Mimik und Gestik auf Vernachlässigung schließen lassen. Wir sehen es auch daran, wie sich ein Baby verhält, wenn die Mutter es im Arm hat oder wenn es beim Stillen keinen Augenkontakt zur Mama gibt.“ All diese Dinge zusammen, würden ein Gesamtbild ergeben, aufgrund dessen entschieden wird, wie es mit der Familie weitergeht. Bei älteren Kindern, die sich schon selbst artikulieren können, müsste man besonders genau hinhorchen. „Die Realität des Kindes ist ernst zu nehmen in dem Moment. Eltern sagen uns oft, dass ihre Kinder lügen. Doch das stimmt so nicht. Kinder können in einem gewissen Alter noch gar nicht konzeptionell lügen“, so Baumgartner weiter.

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Der letzte Schritt

Die Kindesabnahme ist der letzte Schritt einer Reihe von unterschiedlichen Maßnahmen, die der Familie helfen sollen, die vorhandenen Probleme zu bewältigen. „Manche Mütter kommen von selbst auf uns zu und bitten um Unterstützung. Bei diesen Familien funktioniert es dann mit unterschiedlichen Beratungen, Delogierungsvermeidungen, Coachings oder Therapien sehr gut und die Lage stabilisiert sich wieder“, sagt Baumgartner.


Dann gebe es jene Fälle, wo die Bereitschaft weniger hoch ist, zu kooperieren, aber die Maßnahmen dennoch greifen würden. Und dann gebe es eben jene, wo nur noch die Kindesabnahme bleibt. „Trotzdem geht es auch hier darum, der Familie Zeit zu verschaffen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Das Ziel ist immer noch die Rückführung des Kindes, das machen wir sehr oft. In der Zwischenzeit lebt das Kind im Krisenzentrum, in einer Wohngemeinschaft oder, wenn es jünger als drei Jahre ist, bei Krisenpflegeeltern“, sagt Baumgartner.

Nicht mehr zurück

Es kann aber auch sein, dass „Volle Erziehung“ durch den Staat notwendig ist. In diesen Fällen kehren die Kinder nicht mehr in ihre Herkunftsfamilien zurück. „Wenn ein Kind bei Dauerpflegeeltern untergebracht wird, so besteht auch da anfangs noch Chance einer Rückführung. Lebt es aber schon Jahre in der neuen Familie, dann starten wir keinen Versuch mehr“, sagt Gharwal. Kontakte zu den leiblichen Eltern gebe es zwar dennoch, alleine schon deshalb, weil es der Gesetzgeber ein Stück weit vorgibt. „Das Ausblenden der Herkunft tut Kindern nicht unbedingt gut. Aber das muss man sich individuell ansehen“, so Gharwal weiter. Sie wolle aber die Trauer der Eltern, das eigene Kind woanders aufwachsen zu sehen, auf keinen Fall schmälern. „Das ist ein sehr sensibler Bereich.“


Es seien oft die kleinen Erfolge, über die man sich als Sozialarbeiterin in diesem Bereich sehr freut. „Wenn Schulbesuche gelingen. Wenn Kinder für sich die Verantwortung übernehmen wollen, das ist irrsinnig schön“, sagt Baumgartner.

Teil 2: Besuch bei Julia Zeiler

Fragt man Julia Zeiler nach dem Tag, an dem für sie alles aus dem Ruder gelaufen ist, dann nennt sie den 26. August 2012. Jener Tag, an dem ihr Mann gestorben ist, der auch der Vater ihrer beiden Kinder Leonie und Fabian war. Er sei ihr unter ihren Fingern weggeglitten, der Alkoholiker. Aber er habe nie Drogen genommen. Ganz im Gegenteil, er habe von dem harten Zeug gar nichts gehalten. „Es war ein Herzinfarkt, ich war alleine mit ihm zuhause.“ Julia Zeiler * (* Die Namen der Mutter und der Kinder wurden auf ihren Wunsch geändert.) nennt es ein Glück, dass ihre Tochter Leonie gerade bei der Oma war, als es passierte. Und sie nennt es ein Glück, dass das ein Monate alte Baby Fabian an diesem Tag noch mit Entzugserscheinungen im Krankenhaus lag. „So haben die Kleinen den Tod ihres Vaters nicht mitbekommen.“ Die Kleinen werden etwas später aber auch ihre Mutter verlieren, denn Julia Zeiler werden die Kinder per Beschluss abgenommen.


716 Kinder holte das Wiener Jugendamt im Jahr 2016 aus ihrer Familie. Das zeigt der aktuellste Bericht. Hauptsächlich weil diese Kinder vernachlässigt wurden oder psychische und körperliche Gewalt erfahren haben. Österreichweit waren es rund 4.500 Kinder, die aufgrund einer gerichtlichen Verfügung bei Pflegeeltern oder in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebracht wurden. Dürfen oder können Kinder nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben, nennt das Gesetz die Übertragung der Verantwortung „Volle Erziehung.“ Solch ein Schritt wird gesetzt, wenn alle Unterstützung nicht ausreichend war und eine ernsthafte Gefahr besteht.

Ein geregeltes Leben. Mit Drogen.

Wenn Julia Zeiler über ihren verstorbenen Mann spricht, betont sie immer wieder, dass wirklich einiges nicht gepasst hätte. Er sei nicht der beste Papa gewesen, aber sie musste in dieser Beziehung mit ihm funktionieren. „Bis zu einem gewissen Grad führte ich ein geregeltes Leben.“


Ein geregeltes Leben. Mit Drogen. „Ich kann sagen, dass ich 15 Jahre lang ein Junkie war“, erzählt sie heute. Sie sitzt im Café Walther beim Reumannplatz in Wien-Favoriten. Nicht weit wohnt sie. In der Per-Albin-Hansson-Siedlung. Die Spuren der jahrelangen Sucht sind nicht zu übersehen. Die Haut ist fahl, die Zähne schlecht, das Haar dünn. Julia Zeiler würde wohl jeder älter schätzen als 34. Sie wirkt nervös, zittrig. Manchmal spricht sie so schnell, dass die Wörter sich überschlagen, dann folgen wieder längere Pausen. Ist eine Zigarette ausgedämpft, holt sie gleich wieder die nächste aus der Packung. Zu Beginn entschuldigt sie sich für Ihr Auftreten, für Ihr Verhalten. „Ich habe in der Therapie 30 Kilo zugenommen“, sagt Julia Zeiler mit rauchiger Stimme, aber dennoch klingt sie irgendwie wie ein Mädchen. Das liegt auch daran, dass sie zwischen den Sätzen immer wieder kurz kichert. Zum Beispiel als sie erzählt, dass sie seit Kurzem ein Fitness Center besucht.

20 Jahre lang Tabletten

Sechs Monate ist es nun her, dass sie die Entzugsklinik in Ybbs verlassen hat. Sie sei immer noch so unruhig, Gespräche würden sie manchmal überfordern.


Aber sie bemüht sich sehr, das merkt man. „Ich bin schnell nervös. Ich habe fast 20 Jahre lang Benzos genommen, die haben mich immer beruhigt.“ Die Tabletten hätten sofort gewirkt. „Wie ein Antidepressivum, das binnen fünf Minuten einfährt. Es machte unbeschwert, alles war viel leichter.“


Benzodiazepine wirken angstlösend, krampflösend, beruhigend. Sie fördern den Schlaf und entspannen die Muskeln. Was aber verloren geht, sind Empathie und Feingefühl. „Die Benzos, von denen bin ich sehr lange nicht weggekommen“, sagt sie. Als Jugendliche hätte es recht harmlos mit Marihuana begonnen. „Mit 20 bin ich total auf Koks reingekippt, da hab ich ausgesehen wie der Tod, spindeldürr.“


Zu dieser Zeit nahm sie auch schon regelmäßig Morphium und Benzodiazepine.


Es folgt der erste Entzug. Leonie kommt auf die Welt. „Ich bin vor den Ärzten offen damit umgegangen, dass ich im Substitutionsprogramm bin. Habe aber verschwiegen, dass ich so viele Benzos dazu nehme und zeitweise an der Nadel gehangen bin.“


Leonie kommt mit Entzugserscheinungen auf die Welt. Genauso wie einige Jahre später ihr jüngerer Bruder Fabian.


Der erste Entzug hatte nicht geklappt.



Leonie darf mit nach Hause

Nach Leonies Geburt wird die junge Mutter von einer Sozialarbeiterin beobachtet. „Die waren streng, haben geschaut, ob ich beeinträchtig bin. Aber ich durfte mit Leonie nach Hause.“ Zu dieser Zeit hätte es keine schwerwiegenden Probleme gegeben. Aber doch einige „klärungsbedürftige Situationen“ über die Jahre hinweg, denen das Jugendamt sofort nachgegangen sei. So hieß es aus dem Kindergarten, Leonie trage schmutziges Gewand. „Es gab immer wieder kleinere Vorfälle, nichts Tragisches, alles konnte geklärt werden“, sagt Julia Zeiler.


2012 ist das Jahr, in dem Fabian geboren wurde. 2012 ist auch das Jahr, in dem sein Vater stirbt. Leonie musste auf Geheiß des Jugendamtes zu dieser Zeit eine Psychologin der Boje, ein Ambulatorium für Kinder in Krisensituationen, besuchen. „Das haben wir auch brav gemacht.“ Julia Zeiler selbst besuchte auch regelmäßig eine Therapeutin sowie eine Ärztin,  die sie unterstützte und untersuchte. „Ich musste regelmäßig beim Suchthilfeverein Dialog Harntests machen. Weil ich das alles immer wie gefordert erledigt habe, war es für das Jugendamt okay.“


Doch als Julia Zeiler ihr Mann unter den Fingern wegstirbt, verliert sie ihr Regulativ. Als das Baby Fabian sich von den Entzugserscheinungen erholt hat und zu seiner Mutter und Schwester nach Hause darf, wird Julia Zeiler alles zu viel. „Ich hab zwar eine super Familie, die mir hilft, aber ich war total überfordert.“ Das Jugendamt unterstützt Julia Zeiler zusätzlich mit dem Caritas- Programm Familienhilfe plus. Eine Familienhelferin kommt direkt, betreut und unterstützt in der gewohnten Umgebung. „Ich bin damals aber in eine Depression verfallen, konnte den Alltag nicht mehr bewältigen,  habe die Miete nicht mehr bezahlt.“

Per-Albin-Hansson-Siedlung

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Leonie darf nicht mehr nach Hause

Leonie, zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt, hätte einige Probleme gehabt, auf die Julia Zeiler heute allerdings nicht näher eingehen möchte. „Meine Tochter wurde im Wilhelminenspital stationär aufgenommen. Ich habe sie jeden Tag besucht.“


Dass man ihr Leonie tatsächlich wegnehmen könnte, daran hat Julia Zeiler nie geglaubt. Sie hätte zwar von Kindesabnahmen gehört, aber diesen Gedanken nie realistisch zugelassen. Bis zu dem Tag, als sie einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommt. Im Rahmen einer Helferkonferenz sei entschieden worden, dass das Mädchen nicht mehr nach Hause darf. Sie soll in einer Wohngemeinschaft leben. „Die Helfer, die Ärzte, die Psychologen und auch das Jugendamt, sie alle haben gesagt, dass ich mich nicht um zwei Kinder kümmern kann.“ Sehr behutsam seien sie nicht mit ihr umgegangen. „Zuerst habe ich es nicht fassen können. Ich dachte, da muss ja irgendwas dran zu ändern sein.“ War es aber nicht.


Dunja Gharwal ist seit 1998 als Sozialarbeiterin tätig. Seit 2010 arbeitet sie am Jugendamt in Wien. Wie viele Kindesabnahmen sie schon gemacht hat oder begleitend dabei war, weiß sie gar nicht mehr. Sie betont aber, dass dies stets der letzte Schritt ihrer Arbeit sei. „Gerade bei Familien, die wir gut kennen. Wo viel Kontakt von unserer Seite und viel Unterstützung stattgefunden hat, muss man rasch reagieren, wenn das alles nicht greift“, sagt Gharwal besorgt, aber bestimmt. Das Jugendamt sei aufgefordert, immer das gelindeste Mittel zu wählen. Wenn nun aber – wie im Fall von Julia Zeiler - nichts geholfen habe, dann müsse man schnell intervenieren. Zu groß sei die Gefahr für die Kinder.

Eine letzte Chance

„Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dort im Spital zu meiner Tochter diesen Satz gesagt habe: Leonie, du darfst nicht mehr nach Hause kommen.“ Das Mädchen weint, schreit. „Es war so traurig. Ich habe immer wieder zu allen gesagt, dass ich das schaffen kann und sie bitte bei mir bleiben soll.“ Doch an der Entscheidung gibt es nichts mehr zu rütteln. Nach einem kurzen Aufenthalt im Krisenzentrum, ist nun eine Wohngemeinschaft mit acht Kindern und zwei Betreuern Leonies neues Zuhause. Das Baby Fabian darf aber bis auf weiteres bei der Mutter bleiben. Eine Situation, die für das Mädchen unerträglich ist. „Leonie hat nicht verstanden, warum sie wegmuss und Fabian nicht.“


Statt besser, wird alles schlimmer. Die ungeöffneten Rechnungen häufen sich, die Benzos werden wieder mehr. Julia Zeiler bekommt eine letzte Chance vom Jugendamt, um zu zeigen, dass sie sich um Fabian  ausreichend kümmern kann. Sie muss mit dem Baby ins Mutter-Kind-Haus Luise ziehen. Dort wird sie von Sozialarbeitern beobachtet, die dem Amt ständig berichten. „Ich stand dort unter enormen Druck.“ Und so tut Julia Zeiler das, was sie immer getan hat, wenn ihr alles zu viel wird. „Ich habe es mit den Tabletten massiv übertrieben. Das war ganz schlimm. Ich bin dort einfach eingeschlafen, während die Kinder gespielt haben. Ich weiß gar nicht, wann ich eingeschlafen bin, wo eine Gefahrensituation gewesen wäre. Wenn ich mich zurückerinnere, hochgradig verantwortungslos.“ Es dauert nicht lange, bis das Jugendamt, die Polizei und die Rettung vor der Türe des Haus Luise stehen. „Das war die zweite Kindesabnahme. Polizei und Rettung waren für mich gedacht, weil sie vermuteten, ich würde randalieren oder dergleichen, wenn sie mir das Baby wegnehmen.“


Alle drei sind weg. Julia Zeiler ist nun ganz alleine und sitzt vor den Scherben ihres Lebens. Ihre Kinder darf sie ohne Aufsicht nicht mehr sehen. „Mein Bruder und meine Mutter haben sich wahnsinnig engagiert. Haben mit mir die Kinder geholt, bei uns übernachtet, damit ich Leonie und Fabian ab und zu sehen kann.“

"Ich musste etwas ändern"

Das Gefühl der völligen Ohnmacht über ihren Körper, ihren Geist, ihre Kinder, ihr Leben. „Ich musste etwas ändern.“ Julia Zeiler meldet sich im Jahr 2016 in der Klinik Ybbs für einen weiteren Entzug an. Eine dreimonatige durchgehende Intensivbehandlung. Ein kontrollierter Entzug, der bis heute erfolgreich scheint.

Leonie und Fabian wohnen nun beide in der gleichen Wohngemeinschaft. „Seither geht es beiden besser, weil sie das zusammen durchstehen können.“ Julia Zeiler darf die beiden mittlerweile für zwei Nächtigungen im Monat ohne Aufsicht abholen. Die anderen bleiben vorerst weiter nur in Begleitung erlaubt. Leonie und Fabian fahren mit den anderen Kindern der Wohngemeinschaft auf Urlaub, machen viele Ausflüge. Leonie reitet im Rahmen einer Therapie. „Meinen Kindern geht es gut, denke ich“, sagt Julia Zeiler und holt eine zweite Packung Zigaretten hervor. „Ich will die beiden so schnell wie möglich wieder bei mir haben.“


Was Julia Zeiler auf keinen Fall möchte, ist ihre Kinder erneut durch die Hölle zu schicken. „Angst vor einem Rückfall habe ich nicht, das kann ich meinen Kindern und mir nicht noch einmal antun. Aber ich bin körperlich jetzt einfach noch nicht in der Verfassung, um die komplette Verantwortung für alles zu übernehmen.“



Heute, sagt Julia Zeiler, sei ihr klar, dass das Jugendamt richtig gehandelt hat. „Meine Betreuerin wollte, dass es den Kleinen gut geht. Ich hatte ja unendlich viele Chancen. Meine Kinder und ich haben jetzt einen derart qualitativen Kontakt, das war lange nicht der Fall.“


Ihre Zeit verbringt Julia Zeiler nun viel in der Therapie. Wenn es geht mit den Kindern und sonst mit ihrer Mutter und ihrem Bruder. Früher hatte sie einen sehr großen Freundeskreis, keiner davon ist übrig geblieben. „Das waren alles Drogenfreundschaften. Die habe ich aufgegeben.“

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„Ich bin nie mit der Nadel herumgelaufen“

Sie kramt in ihrer Tasche und zeigt stolz die zwei Passfotos von Leonie und Fabian. Sie kichert. Leonie sei die Aufgeweckte, Extrovertierte. Oft ecke sie mit ihrer Art an, das Übergewicht mache dem Kind zu schaffen. Fabian hingegen sei der Zarte, der Ruhige, der Zuhörer.


Leonie besucht immer noch die Psychologin. „Fabian geht in keine Therapie, aber vielleicht wird das später nötig sein. Aktuell erhält er eine logopädische Behandlung“, erzählt Julia Zeiler während sie die Fotos ihrer Kinder anstarrt.


Sie  will vor ihren Kindern offen mit ihrer Suchterfahrung umgehen. „Leonie weiß schon jetzt, dass die Drogen der Mama das ganze Leben zusammengehaut haben.“ Lange Zeit habe sie geglaubt, dass Drogen und Kinder sehr gut vereinbar seien. Immerhin hätte sie ja ein geregeltes Leben geführt. Da war ein Job, da waren Freunde und ein Mann. Mit den Kindern hätte sie mehr unternommen als manche nicht-drogensüchtigen Mütter, die sie kannte. „Und ich bin doch nie mit der Nadel vor meinen Kindern herumgelaufen. So wie andere ihr Achterl Wein am Abend trinken, hatte ich eben meine Benzos und mein Morphium.“

Das gute Leben in einer Box

Julia Zeiler hat zuhause im Wohnzimmerregal eine kleine Schachtel liegen. Selbstgebastelt. In der Therapie. In der Schachtel sind Fotos von Leonie und Fabian. Daneben liegt eine Erste-Hilfe-Schokolade. Für den Fall, dass die Gier nach einer Droge kommt. Auch ein kleines Buch liegt da. Am Ende jeden Tages soll Julia Zeiler drei Erlebnisse eintragen, die gut gelaufen sind. „Ein Fremder hat mir die Straßenbahntüre aufgehalten“, steht da beispielsweise. „Wenn ich die positiven Dinge aufschreibe, trainiere ich mein Gehirn, die negativen nicht so stark wahrzunehmen.“


„Machen Sie das immer noch täglich?“


„Ich vergesse manchmal. Aber die Schokolade liegt noch in der Schachtel.“


Beim Verabschieden will Julia Zeiler noch etwas sagen. Sie hadert damit, die richtigen Worte zu finden. Dann macht sie eine Pause und sagt den Satz in aller Ruhe. „Es war immer so, dass ich wirklich geglaubt habe, dass ich das Beste tue.“

Teil 3: Besuch im Krisenzentrum

Warum bist du hier gelandet? Wann wirst du entlassen? Darfst du wieder zu deiner Familie zurück? Es sind genau diese Fragen, die sich die Kinder hier im Krisenzentrum gegenseitig stellen, wenn sie sich kennenlernen. Als wäre es das Normalste der Welt anzunehmen, dass man vielleicht nicht wieder zur eigenen Mutter darf. Kinder, die sich bis vor kurzem noch nie über den Weg gelaufen sind, müssen sich hier nun alles teilen.


Das frisch renovierte Altbauhaus steht in der Wasnergasse im 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Räume sind hoch, die Wände frisch und blendend weiß gestrichen, die Sonne scheint herein. „Sozialpädagogische Einrichtung“ steht draußen am Eingangstor. Im ersten Stock befinden sich die Büros der Mitarbeiter, im zweiten Stock das Krisenzentrum, im dritten Stock liegen die zwei Wohngemeinschaften mit je acht Schlafplätzen für Kinder, die dauerhaft fremduntergebracht werden müssen.

Foto:Yvonne Widler

Im Krisenzentrum ist es heute recht ruhig. Doch die bunten Wände, Malereien und Spielsachen lassen es dennoch lebhaft wirken. An der Wand hängt ein Kümmerkasten, kein Kummerkasten. Im großen Aufenthaltsraum stehen auf der einen Seite die Spielkonsole und der Internetzplatz, auf der anderen die Puppenküche und Spielbälle. Ein Kinderzimmer für Drei- bis Sechzehnjährige.


Die meisten sind jetzt gerade in der Schule oder im Kindergarten. Ein langer Gang führt zu den Zimmern. Hauptsächlich Einzelzimmer. Ein zehnjähriger Bub blinzelt schüchtern aus einer der Türen heraus. Das Namensschild verrät, dass er Daniel heißt. Daniel hat eine so genannte „Biographische Landkarte“ mit einer der Betreuerinnen gezeichnet. Diese Karte ist eines der vielen Hilfsinstrumentarien, um eine Einschätzung des Umfeldes und der Beziehungen des Kindes zu gewinnen. „Papa Georg“ ist rot umrahmt. Rot bedeutet „nicht so wichtig oder seltener Kontakt“. Vor zwei Jahren hat er ihn das letzte Mal gesehen. Die Karte hängt an der Innenseite von Daniels Zimmertüre.

Foto:Yvonne Widler

Entscheidet das Jugendamt, ein Kind aus der Familie zu nehmen, so kommt es zuallererst ins Krisenzentrum. Im Schnitt verbringen die Kinder sechs Wochen hier. Sie sind zwischen drei und 16 Jahre alt. Sie kommen aus unterschiedlichen Milieus und Kulturen, haben verschiedene Leidenswege hinter sich. Manche erfuhren Gewalt, andere wurden massiv vernachlässigt. Einigen passierte beides. Die einen sind froh, dass sie vom grausamen Vater weg durften, andere weinen und schreien bitterlich. Man kann sich vorstellen, was diese Situation auch für die Mitarbeiter bedeutet. Aus Sicherheitsgründen sind die Küchenladen mit den Messern verriegelt, wegen der unberechenbaren Kinder. Die Fenster darf man nicht ganz öffnen, wegen der ganz kleinen Kinder.


Wird ein Kind zu laut oder aggressiv, holt ihn einer der Sozialpädagogen aus der Gruppe heraus und dann besuchen sie den nahe gelegenen Augarten. Damit das Kind Energie abbauen kann.


Gerade wegen der furchtbaren Umstände, die die Kinder hier hergeführt haben, wird von den Mitarbeitern im Haus alles gegeben, um den Aufenthalt hier so schön wie möglich zu gestalten. Worum sich deren Eltern nicht gekümmert haben, das übernehmen jetzt Michael Körber und sein Team. Er ist der sozialpädagogische Leiter des Krisenzentrums. Groß, schlank, sportlich. Mit Gel aufgestelltes Haar. Heute im weißen Polo und Jeans gekleidet. Immer im leichten Laufschritt unterwegs. Doch so hektisch und chaotisch sein Job manchmal auch ist, wenn Körber über seine Kinder spricht, wird er ganz ruhig und ernst.

Foto:Yvonne Widler

Wenn sein Telefon läutet, weiß er, es kommt ein neues Kind. Er erhält dann vom Jugendamt rasch die wichtigsten Informationen: Alter, Geschlecht, Gefahrensituation. Eine Stunde später empfängt Körber das Kind im Beratungsraum. Da es der allererste Kontakt mit ihm ist, geht er besonders behutsam vor. „Ich muss dem Kind an dieser Stelle erklären, warum es hier ist. Ich erkläre ihm, dass es sein Recht ist, gewaschen zu werden oder nicht geschlagen zu werden.“


Diese sehr besondere und heikle Situation könne man nie vorhersehen. Manche der Kinder sind im Schock, andere ganz ruhig, viele weinen und haben Angst. Mit jedem von ihnen müsse man anders umgehen, die Lebensrealitäten liegen oft Welten auseinander. Das Kindeswohl habe immer Vorrang. Hier, an diesem Ort, sollen die Kleinen das Gefühl bekommen, dass sie das Wichtigste sind. „Vor kurzem wohnte ein 14-jähriges Mädchen hier. Sie wurde sexuell missbraucht vom Vater. Die Mutter hat nichts gesagt. Das Mädchen hat darauf bestanden, beide Eltern auf keinen Fall sehen oder hören zu wollen. Dem wird von unserer Seite dann gefolgt“, erzählt Körber.


Auch während dem Gespräch mit Kurier.at wird Körber gerufen. Er springt auf, entschuldigt sich, stürmt aus dem Raum. „Ein Geschwisterpaar, wir brauchen noch ein Bett“, sagt er als er fünf Minuten später wieder zurückkommt. Eigentlich ist das Krisenzentrum voll belegt. „Wir schicken aber sicher keine Kinder weg.“

Wie kommt ein Kind ins Krisenzentrum?

Wenn Sozialarbeiter von einer vermuteten Gefährdung eines Kindes erfahren, müssen sie zur Sicherung des Kindeswohles aktiv werden. 2016 war das in Wien über 13.000 Mal der Fall. Die meisten Meldungen kamen von Polizei oder Schule und Kindergarten. Oder die Sozialarbeiter entschieden dies in Eigenwahrnehmung. Anschließend folgt eine Gefährdungsabklärung. Sollte der Schutz des Kindes während dieser Abklärung in der Familie nicht ausreichend gewährleistet sein, kann eine vorrübergehende Aufnahme in einem Krisenzentrum (Kinder ab drei Jahre) oder bei Krisenpflegeeltern (Babys und Kleinkinder bis drei Jahre) erfolgen.


Rund 1.000 Kinder wurden im Jahr 2016 in Wiener Krisenzentren untergebracht, 300 mehr als in dem Jahr davor. Ziel der ist es, die Gefährdung des betroffenen Kindes zu beenden, sodass es wieder bei seiner Familie leben kann. Ist dies aber nicht möglich, wird das Kind in einer der Wohngemeinschaften leben und vielleicht sogar bei dauerhaften Pflegeeltern.

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Wie kommt ein Kind ins Krisenzentrum?

„Wir brauchen mehr Pflegeeltern und Krisenpflegeltern“, sagt Antonio Strauß. Sein Büro liegt im Stock unter dem Krisenzentrum. Ledercouch, moderne Einrichtung, in der Ecke lehnt eine Gitarre. Strauß, weißes Haar, braun gebrannt, Tommy Hilfiger-Hemd. Er spricht sehr langsam und bedacht, wenn man ihn nach seinem Job hier fragt. Vier Jahrzehnte arbeitet er bereits in der Branche. Heute ist er Regionsleiter für den 20. und 21. Bezirk. „Ein wichtiger Teil meines Jobs ist es, die geeigneten Plätze für die Kinder zu finden.“


Das Team „Strauß und Körber“ scheint sehr gut zu funktionieren. Körber steht direkt im Krisenzentrum, Strauß kümmert sich um die Ebenen darüber, er hat beispielsweise die letzte Entscheidung bei dauerhaften Fremdunterbringungen.


Seine Karriere begann in einem Kinderheim, das er geleitet hat. „Damals gab es noch riesige Schlafsäle, die Zustände kann man überhaupt nicht mehr vergleichen, zum Glück“, sagt Strauß. Denn heute, da stünde das Bedürfnis des Kindes im Zentrum. Einzelzimmer, Rückzugsorte, angepasste Therapien, Kinderrechte. „In Österreich hat sich wirklich sehr viel getan“, sagt Strauß, der auch Psychotherapeut ist.

Foto:Yvonne Widler

Fragt man ihn, ob es denn genügend Platz hier in der Wasnergasse für die Kinder gibt, blickt er seinen Kollegen Körber an. „Wissen Sie, ich habe da eine geteilte Meinung“, sagt Strauß. „Ich bin wirklich dafür, die ambulanten Hilfestellungen zu verbessern, den Familien direkt zu helfen.“ Demnach sollte es vermieden werden, das Kind aus der Familie zu holen, da es ja Teil der Familie ist. „Man kann einem System nicht helfen, wenn man es zerreißt. Das Kind ist Teil des Systems Familie“, erklärt Strauß. Aber selbstverständlich gebe es Situationen, wo die Fremdunterbringung die beste Möglichkeit sei, bei sexueller Gewalt etwa.


Das Wichtigste in ihren Jobs sei Empathie, Reflexion und Kreativität, sagen die beiden. „Ehemalige Bewohner des Krisenzentrums haben uns Feedback gegeben“, erzählt Strauß. Das würde er sehr ernst nehmen. Demnach sei es das Wichtigste für die Kinder, zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht. Wo komme ich hin? Und wann wird das passieren? „Heute machen wir es so, dass wir die Wohngemeinschaft vorher im Internet suchen, dann sehen wir sie uns mit dem Kind gemeinsam an. Es kann sich also langsam daran gewöhnen“, sagt Körber. Und im absoluten Idealfall wären die Eltern sogar bei der Besichtigung dabei. Aber Strauß‘ und Körbers Gesichter zeigen, dass dies nicht allzu oft vorkommt.

Ein wichtiger Termin

Die zwei Männer führen stolz durch die Räumlichkeiten in der Wasnergasse. Gerade ist Dienstübergabe im Krisenzentrum, die Sozialpädagogen besprechen die „Fälle“ und die Tagestermine der Kinder. Auch Strauß muss jetzt zu einem Termin. „Ein sehr wichtiges Treffen“, sagt er. Er besucht jetzt einen kleinen Jungen, der drei Monate hier gelebt hat. In dieser Zeit ist die Mutter verschwunden, sonst war keiner mehr aus der Familie des Jungen da. Strauß hat den Kleinen bei einer Kinderdorf-Familie untergebracht. „Und heute besuche ich ihn dort. Ich will wissen, wie es ihm geht.“

Teil 4: Besuch bei Ulrike und Maxi

Nach 30 Jahren im Finanzwesen wollte Ulrike etwas Sinnvolles machen. Das Leben als Angestellte eines großen Konzerns hat ihr nicht mehr gereicht. Diese Entscheidung hat sie vor knapp drei Jahren getroffen. Heute ist Ulrike eine von rund 40 Krisenpflegemüttern, die hauptsächlich in der Region Wien aushelfen. Viel zu wenige. Benötigt werden dreimal so viele. Ist ein Platz frei, läutet sofort das Telefon. Die Sozialarbeiterin vom Jugendamt. Ein neues Kind könnte gleich in der nächsten Stunde einziehen. Krisenpflegemütter kümmern sich um Babys und Kleinkinder bis zu drei Jahren für einen gewissen Zeitraum.


Ulrike ist keine typische Krisenpflegemutter. Sie hat keine eigenen, kleinen Kinder mehr und auch keine anderen Kinder auf Dauer in Pflege. Ihre Töchter sind schon 23 und 34 Jahre alt und längst ausgezogen. Ulrike schenkt dem Krisenpflegekind also ungeteilte Aufmerksamkeit, hat kaum andere Verpflichtungen, richtet sich fast ausschließlich nach den Bedürfnissen des jeweiligen Kindes. Sie hat beim Jugendamt vermerkt, dass sie immer nur ein Kind haben möchte. Dieses bekommt ihre volle Zuwendung.


Ihr Lebensgefährte zieht mit ihr an einem Strang. „Wir haben uns vor drei Jahren gemeinsam dazu entschieden, finanziell geht es sich aus“, erzählt Ulrike. Bei der Entscheidung, Krisenpflegemutter zu werden, ist dieser Aspekt nämlich nicht ausblendbar. Gehalt gibt es keines. Ulrike erhält Pflegegeld in der Höhe von 1030 Euro  vom Jugendamt. Beim Verein Eltern für Kinder (EFKÖ)  ließ sie sich mit einem Euro über der Geringfügigkeitsgrenze anstellen, damit sie versichert ist.

"Er hat schon auf mich gewartet"

Nachdem die 53-Jährige alle Kurse und Bescheinigungen erhalten hatte, ging es auch schon rasch los. „Das erste Kind vergisst man nie“, erzählt Ulrike gerührt und zeigt ein Foto. 18 Monate alt. Ein Junge. Gesund und normal entwickelt. Nico. „Das erste Mal war natürlich total aufregend.“ Es war im Dezember 2014, kurz vor Weihnachten. „Ich habe den Kleinen vom Jugendamt abgeholt, er hat dort schon in der Puppenküche in einem Spielzimmer auf mich gewartet. Er war sowas von hübsch, lieb und intelligent.“ Ulrike sagt, das erste Kind ist etwas ganz Besonderes. Ihre strahlend grünen Augen leuchten, als sie von Nico erzählt und sich zurückerinnert. Man sieht, wie vernarrt sie in das Kind ist. Nico war anfangs sehr ruhig, hat viel beobachtet. Er war zurückhaltend, leise und ängstlich. Dass ja nichts passiert.


Diese Kinder sind oft viel Lärm und Gewalt gewohnt. Doch nach einiger Zeit taute Nico auf und war ganz aufgeweckt. „Sie glauben nicht, wie schnell das geht. Wie schnell sich diese Kinder erholen, wenn sie in einer Umgebung leben, in der sie sich sicher fühlen und sich entspannen können.“ Ulrike und ihr Lebensgefährte wohnen am Stadtrand von Wien. In einem Gartenhaus. Ein kleiner Teich gehört dazu. Den Wald sieht man von der Terrasse. Hier ist es grün und ruhig. Die Vögel zwitschern, das ist das einzige Geräusch. Ein bisschen wie im Urlaub.



Ulrike hatte nach Nico noch sieben weitere Kinder. Wenn sie von ihnen erzählt, sagt sie „meine Kinder.“ Sie hatten Gewalt oder massive Vernachlässigung erfahren. Ulrike hat unzählige Albträume und lautes Weinen weggestreichelt in den Jahren. Nicht nur einmal ist sie an ihre Grenzen gestoßen. Es waren Drogenbabys, die an einem Überwachungsmonitor hingen, schwere Entzugserscheinungen hatten und Tag und Nacht geschrien haben. Solche Kinder sind besonders gefährdet, den plötzlichen Kindstod zu sterben. Oft waren die Mütter psychisch krank und nicht imstande, sich zu kümmern. Und oft waren die Mütter selbst noch Kinder.


Kommt ein Baby in sein neues Zuhause bei Ulrike, beginnt diese sofort mit den notwendigen Vorbereitungen und vorgeschriebenen Aufgaben: altersadäquate Kleidung und Spielsachen bereitstellen, schauen, ob es Verletzungen hat, den Pflegezustand beschreiben, einen Arzt besuchen, beobachten, wie es schläft. Darüber hinaus muss sie einmal im Monat einen Verlaufsbericht an die zuständige Sozialarbeiterin schreiben.

Foto:Yvonne Widler

Und dann kam Maxi...

Es war September 2016, als wieder das Telefon läutete. Ein Junge, 19 Monate, unterentwickelt. Mehr erfährt sie nicht. Sie stimmt zu und kurz darauf liegt Maxi in seinem neuen Gitterbett und ist Teil dieser neuen Familie. „Maxi hatte eine schwere Essstörung, musste ganz intensiv betreut werden. Vier Arzttermine pro Woche: Therapie, Essklinik, Logopäde, Psychologe.


Maxi konnte nicht schlucken, nicht trinken. Der kleine Junge war stark unterernährt. Maxi hat die erste Zeit kaum ein Geräusch von sich gegeben, er hat nicht einmal geweint. „Ich dachte, er kann das gar nicht, ich dachte, er kann keine Gefühle zeigen.“ Es wurde vermutet, dass der Junge eine Beeinträchtigung hat. Maxi konnte nicht selbständig sitzen und sich im Gitterbett nicht selbst umdrehen.

Foto:Yvonne Widler

Fast ein Jahr später lebt Maxi immer noch bei Ulrike. In der Zwischenzeit kann er krabbeln und gehen. Er brabbelt vor sich hin, versucht die ersten Worte von sich zu geben und nachzusprechen. Er ist aufgeweckt, neugierig, trägt eine rote Hornbrille und coole Kinderkleidung. Von Schüchternheit keine Spur mehr. Maxi lächelt in einer Tour, strahlt mit seinen großen braunen Augen mit Ulrike um die Wette. Die Essstörungen sind weg, hier im Garten spielt ein glückliches Kind.


Ulrike kann es selbst nicht glauben, welche Fortschritte der kleine Mann gemacht hat. Gerade sind sie aus dem Urlaub gekommen. Campen in Grado. „Seit wir zurück sind, geht es ihm noch viel besser“, erzählt Ulrike stolz.

Panische Ängste

Ulrike sagt, diese Kinder wüssten ganz genau, was hier passiert. Sie wüssten ganz genau, dass sie aus ihrer leiblichen Familie geholt wurden. Für solche Eltern verhängt das Jugendamt spezielle Auflagen, die sie innerhalb von sechs bis acht Wochen erfüllen müssen. Schaffen sie das nicht, wird ein Vermittlungsauftrag eingeleitet und Pflegeeltern gesucht. Bis zu diesem Zeitpunkt muss Ulrike eine Stunde pro Woche Besuchskontakt mit den Eltern abhalten, danach 14-tägig. Dieser kann sich als sehr schwierig erweisen. „Es gibt Kinder, die weinen, wenn sie ihre Eltern wiedersehen. Sie wollen nicht zu den Eltern. Da kommt es manchmal zu sehr heftigen Szenen. Überhaupt da, wo Gewalt im Spiel war. Diese Kinder haben panische Angst und schreien. In so einem Fall wird der Besuch natürlich abgebrochen.“


Schaffen es Eltern jedoch, die Auflagen des Jugendamtes zu erfüllen, dann geht es recht schnell und das Kind lebt wieder in der Herkunftsfamilie. In solchen Fällen bricht der Kontakt zu Ulrike ab. „Für mich ist es schwierig, wenn das Kind zu den leiblichen Eltern zurückkommt, denn dann erfahre ich nichts mehr. Das Gesetz untersagt einen Kontakt.“  Von Ulrikes acht Kindern sind zwei zu den leiblichen Eltern zurückgekehrt. Die anderen wurden bei dauerhaften Pflegeeltern untergebracht. Zu diesen habe sie noch guten Kontakt, da gebe es Besuche und Geschenke. „Ich sehe sie groß werden, das ist schön.“

Der schwerste Abschied

„Ich bin wirklich sehr gerne Krisenpflegemutter. Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Meine ganze Familie hat davon profitiert.“ Vor allem das soziale Umdenken, der Kontakt mit zerrütteten Familien, habe in ihr etwas bewegt. „Wenn man einmal mit Drogenkranken zusammengearbeitet hat, dann sieht man, warum sie das machen. Es gibt ja keine Kinder aus ‚guter‘ Familie, die in dieser Form abrutschen. Diese Menschen haben keinen anderen Ausweg. Oft sind sie selbst misshandelt oder missbraucht worden.“


Ulrike wird die nächsten zehn Jahre noch Krisenpflegemutter sein, dann geht sie in Pension. „Wir genießen unser Leben, aber gemeinsam ausgehen, das spielt es nicht mit diesen Kindern. Die Partnerschaft muss einiges aushalten und stabil sein. Ich will aber keinen fremden Babysitter. Bei Bedarf springen die eigenen Töchter ein und helfen tatkräftig mit. Diese Kinder sind bedürftig, sie brauchen uns und einen geregelten Alltag.“

Foto:Yvonne Widler

Ulrike behandelt diese Krisenkinder wie ihre eigenen. „Ich kann gar nicht anders. Ein Baby gehört geschmust.“


Maxi hat anfangs körperlichen Kontakt nicht zugelassen. Wenn Ulrike ihn ange- fasst hat, ist er erschrocken. Heute ist das anders. Der Abschied von Maxi wird schwer.


Kindesabnahmen sind ein heikles Thema. In der Gesellschaft und deren Wahr- nehmung. Für das Jugendamt, für die betroffenen Familien. Sie scheinen das Re- sultat von Versagen zu sein. Und dann denkt man wieder an den kleinen Luca- Elias, Cain und Baby Amanda. Und man fragt sich, ob diese Kinder noch leben würden, hätte das Jugendamt früher eingeschritten. Aber wie die Sozialarbeite- rinnen immer wieder betonen: Über die verhinderten Unglücke, über die spreche nun mal kaum jemand.