Letzte Fahrt nach Libyen 

Von Moritz Gottsauner-Wolf (Text)

und Jürg Christandl (Fotos)

Für ein paar Tage im Sommer 2017 kamen keine Migranten mehr in Italien an. Im Hinter- grund begann ein Krieg um Waffen, Öl, Schmuggelrouten und Geld aus Europa.

Chronik einer Rettungsfahrt vor der Küste Libyens.

Es gibt ein Europa vor, und eines nach dem 3. Oktober 2013. Das ist der Tag, an dem ein mit Flüchtlingen und Migranten besetztes Fischerboot unweit der Insel Lampedusa kentert und sinkt. Die rettende Küste in Sichtweite, ertrinken 359 Menschen qualvoll. Gestartet waren sie aus Libyen.

Unter dem Eindruck des Unglücks beschloss die italienische Regierung die Ope- ration „Mare Nostrum“, die Migranten aus Seenot retten sollte. Vier Jahre später holt Europa immer noch Menschen aus dem Meer, auch das Sterben hält an. Nur ist die Lage heute noch komplizierter: NGOs und EU-Kriegsschiffe führen Ret- tungsaktionen nun nahe der libyschen Küste durch. Das Bürgerkriegsland Libyen gleitet mehr und mehr ins Chaos ab. Die Gewalt gegen die hundertausenden Mi- granten im Land nimmt zu. Jene, die es nach Europa schaffen, berichten von Mord, Vergewaltigung und Sklaverei in systematischem Ausmaß.

Zwei Reporter des KURIER verbrachten im vergangenen Sommer drei Wochen auf dem Rettungsschiff "Prudence" der NGO Ärzte ohne Grenzen, um über die Arbeit der NGOs und Situation der Migranten in Libyen zu recherchieren. Die Diskussion über die Mittelmeer-Route hatte in Österreich gerade ihren Höhe- punkt erreicht. Der Zufall wollte es, dass in Libyen zur selben Zeit ein europäi- scher Plan in die Tat umgesetzt wurde, der die Eindämmung, wenn nicht sogar die Schließung der Mittelmeer-Route vorsah. Was genau in Libyen vor sich ging, blieb im Verborgenen.

Drei Monate später ist das Bild klarer. Es zeigt die Bemühungen von EU-Staaten, die Situation zu ändern; das Scheitern an der libyschen Realität und den hohen Preis, den die Schwächsten dafür bezahlen.

Teil eins: Vor der Küste

Über dem Horizont erhebt sich eine mächtige Rauchsäule in sanftem Bogen über das Meer. „So etwas sehen wir hier immer wieder“, sagt Laith Mohammad, ohne den Feldstecher von den Augen zu nehmen. Er steht auf der Brücke der „Pru- dence“, zehn Meter über dem Meer, 33 Kilometer vor der Küste. Wo der Rauch be- ginnt, dort ist Libyen. Was ihn ausgelöst hat, ist aus der Entfernung nicht zu er- kennen. „Bomben, Granatfeuer, irgendetwas in der Art wird es sein“, sagt er. „Die Milizen bekriegen sich wahrscheinlich wieder.“ Mohammad ist heute als Ausguck eingeteilt. Er soll in der gleißenden Mittagssonne das Meer nach Migrantenbooten absuchen. „I'm easy like Sunday morning“, singt Lionel Richie im Radio auf der Brücke.

Mohammad, 35, tut seit zwei Monaten als Übersetzer Dienst auf der „VOS Pru- dence“, einem Rettungsschiff der NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF). Bald ist seine Zeit an Bord zu Ende. Selten bleiben Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen länger auf den Rettungsschiffen im Mittelmeer stationiert. Die Arbeit ist kräfteraubend, physisch wie psychisch. Mohammad ist froh, bald wieder an Land zu gehen. Aber es liegt nicht in seiner Hand. Ohne gerettete Migranten und Flüchtlinge an Bord wird das Schiff so schnell nicht nach Italien zurückkehren.

Wir schreiben den 22. Juli. Seit vier Tagen kreuzt die „Prudence“ vor der Küste Libyens – aber die Boote sind ausgeblieben. „Keine Sorge, morgen kommen die Boote, ich spüre es“, hatte Mohammad am ersten Tag gesagt und seitdem jeden Tag mit schwindender Überzeugung in der Miene wiederholt. Inzwischen hat er selbst Zweifel. Dass so lange keine Boote auftauchen, hat er in seiner Zeit hier nicht oft erlebt. Das Wetter ist perfekt, kaum Wellen, Sonnenschein.

Video: Vorbereitungen auf der  "Prudence"

Aber da ist nichts außer ein paar Möwen, Treibgut, ab und zu ein Fischerboot. Und die Rauchsäule. Die Frage, die uns in diesen Tagen umtreibt, wird ein paar Wochen später halb Europa beschäftigen:

Was ist da los auf der Mit- telmeer-Route?

2017 ist zu diesem Zeit- punkt auf dem besten Weg zu einem Rekordjahr. In den ersten sechs Monaten sind so viele Migranten über Libyen in Italien an- gekommen, wie nie zuvor.

Die Schiffe der bis zu zehn NGOs, der EU-Mission Sophia und der italienischen Küstenwache hatten Tausende Menschen pro Woche nach Süditalien gebracht. In der Woche bevor wir an Bord der „Prudence“ gingen, war das Schiff mit über 1000 Menschen an Deck in Salerno bei Neapel eingelaufen, dem maximalen Fas- sungsvermögen dieses größten NGO-Schiffs im Mittelmeer.

Die Bilder der Migranten und Flüchtlinge, wie sie dicht gedrängt an der Reling standen, gingen quer durch Europa – und machten wieder eine Spaltung sichtbar. Wo die einen Stolz verspüren, dass dem Sterben im Mittelmeer nicht zugeschaut wird, sehen andere ein Problem, das aus dem Ruder gelaufen ist. Und die „Prudence“ mit ihrem charakteristischen ro- ten Bug ist spätestens in Salerno zum Symbol für beide Seiten der Debatte geworden.

Wir beobachten die Rauchsäule, bis sie mit dem blassblauen Hintergrund verschmilzt. Die Luft ist diesig, wir haben die libysche Küste seit unserer An- kunft nicht gesehen. In der Morgenbesprechung be- richten die Arabischsprechenden an Bord täglich von den neuesten Nachrichten aus Libyen. „Der Kontext ändert sich“, hat der MSF-Teamleiter Stephan Van Diest die Berichte heute zusammengefasst. Die Mili- zen an der Küste würden um Gebiete und das lukra- tive Schleppergeschäft kämpfen. Niemand weiß Ge- naues, in Libyen herrscht Chaos.

Die Italienerin Angelina Perri ist Hebamme und auf der "Pru- dence" auch für die Frauenge- sundheit zuständig. Sie schätzt aufgrund ihrer Erfahrung, dass neun von zehn Migrantinnen in Libyen Opfer sexueller Gewalt werden

Der in Schweden lebende Palästinenser Laith Mohammad ist Arabisch-Übersetzer und "Cultural Mediator" an Bord der "Prudence". Er übernimmt die Kommunikation zwischen Crew und arabischsprachigen Geretteten

Nach Sonnenaufgang wech- seln sich die Crewmitglieder stündlich beim Ausschauhalten auf der Brücke ab. Im Bild: MSF-Teamleiter Stephan Van Diest (li.)

MSF-Teamleiter Stephan Van Diest (re.) erläutert bei der Mor- genbesprechung die Pläne für den Tag

Das Hauptdeck der "Prudence" (oben, überdacht),das erste Oberdeck (unten) mit Beiboot und Leichenkühlraum (rechter Container)

Die Norwegerin Itta Helland- Hansen, 37, hat als Deckman- agerin bei Rettungseinsätzen eine der zentralen Koordina- tionsfunktionen. Für MSF war sie vorher unter anderem im Irak, Südsudan und in Liberia tätig

Der Tunesier Oussama Omrane ist unter anderem für das Sam- meln von aktuellen Nachrichten zur Mittelmeer-Route aus Libyen und Europa zuständig. Er hat schon auf allen vier Schiffen gearbeitet, die MSF bisher vor Libyen eingesetzt hat

Die Deutsche Friederike Ander- nach ist die Psychologin an Bord der "Prudence". Sie leistet nach Rettungsaktionen psy- chologische Erste Hilfe für die Geretteten. Vor ihrer Mit- telmeer-Mission war sie für MSF in der Kaschmir-Region

Gemeinsames Mittagessen in der Schiffsmesse

Das Hauptdeck ist nach den Mahlzeiten ein Treffpunkt der Crew

Die Beiboot-Piloten überprüfen und warten nach jeder Fahrt die Motoren. Zu Beginn jeder Rettungsaktion verteilen sie Schwimmwesten an die Migranten

Nur wenige andere Länder stehen so knapp am Abgrund wie das ehemalige Reich des Diktators Muammar al-Gaddafi. Drei unterschiedliche Regierungen erheben Anspruch auf die Führung. Hunderte Milizen haben das Land unter sich aufge- teilt. Der sogenannte „Islamische Staat“ treibt auch hier sein Unwesen. In diesem tödlichen Puzzlespiel ist die Migration ein zentrales Stück, an das viele andere an- schließen. Eines dieser Stücke sind die Rettungsschiffe vor der Küste.

Weil am späten Nachmit- tag keine Boote mehr zu erwarten sind, steigen wir die Treppe hinab auf das Hauptdeck, wo das über- wiegend italienische Krankenhauspersonal wieder am Kartenspielen ist. Andere vertreiben sich in der angenehmen Kühle ihrer klimatisierten Kajüten die Zeit mit Le- sen. Im Aufenthaltsraum steht eine Playstation mit FIFA 2015, aber Moham- mad findet keinen, der mit ihm spielen möchte.

Die Krankenpfleger, Ärzte, Übersetzer und Logistiker im MSF-Team sind es ge- wohnt, auf wenig Raum leben zu müssen. In Krisenländern ist es aus Sicherheits- gründen oft genauso schwierig, die Stützpunkte zu verlassen, auf denen sie für Monate am Stück arbeiten. Die aktuelle Leiterin des Feldspitals auf der „Pru- dence“ hatte etwa das MSF-Spital in Kundus in Afghanistan geleitet, kurz bevor es im Oktober 2015 versehentlich von einer amerikanischen Bombe getroffen wurde. 13 ihrer Kollegen kamen ums Leben. Zwei weitere Crewmitglieder waren 2014 und 2015 in Liberia im Einsatz, um die Ausbreitung von Ebola auf den Rest der Welt zu verhindern, und sahen dort Kollegen am hämorraghischen Fieber zugrun- de gehen. Die meisten an Bord sind bereits seit Jahren für MSF in allen Ecken der Welt im Einsatz gewesen, haben Tod und Leid aus nächster Nähe gesehen.

Auch die „Prudence“ ist für den schlimmsten Fall vorbereitet. Auf dem ersten Oberdeck steht ein weißer Container mit starken Kühlaggregaten. Er dient gerade als Lager. Aber eigentlich fungiert er als Leichenhalle. Bei jeder Rettung kann es passieren, dass in den Schlauchbooten verkrümmte Körper zurückbleiben, hinab- gedrückt von panischen Insassen, ertrunken in wenigen Zentimetern Wasser, die sich auf den schlecht gerfertigten Böden der Boote ansammeln. Über die Bergung von Leichen spricht hier niemand gerne. Aber das Worst-Case-Szenario bleibt im- mer im Hinterkopf. Seit bald zwei Monaten musste der weiße Container auf der „Prudence“ nicht mehr in Betrieb genommen werden.

Nach dem Abendessen versammelt sich die Crew am Hauptdeck unter freiem Himmel, um zu rauchen und den Sonnenuntergang zu beobachten, der in dieser Gegend manchmal die blassgelbe Farbe der Sahara annimmt. Ein weiterer Tag des Rätselns und Wartens, ohne Rettungseinsatz, geht zu Ende. Dass es die vorerst letzte Fahrt der „Prudence“ sein würde, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Video: Das Feldspital der "Prudence"

Teil zwei: Der Onkel von Sabrata

Für Samir hat der Tag schlecht begonnen, aber immerhin, er ist noch am Leben. Der 27-Jährige fühlt sich schon länger nicht mehr sicher in Libyen, in das er vor vier Jahren zum Arbeiten gekommen ist. Bewaffnete Banden, Milizen, Kämpfe, Ge- fängnisse, in die Ausländer wie Samir ohne Grund eingesperrt werden. „Ich habe Morde und Entführungen gesehen. Es ist schlimmer geworden“, sagt der gebürti- ge Algerier. So schlimm, dass er sich entschloss, zu fliehen, mit zig anderen in ein wackeliges Schlauchboot gepfercht. Ihr Ziel: Italien, oder wohin auch immer sie die großen Schiffe draußen jenseits der Seegrenze bringen würden. Alles, nur nicht Libyen.

Das war in den frühen Morgenstunden. Am Vormittag steht Samir wieder auf li- byschem Boden. Ein Boot der Küstenwache hat seine Gruppe entdeckt und in den Hafen der Stadt Zuwara gebracht, etwa 50 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt.

Am Hafengelände wird Samir von Männern in weißen Westen empfangen. Auf den Westen hätten die Embleme des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds geprangt, sagt Samir. Er wähnt sich in Sicherheit. „Ich habe die Symbole erkannt. Ich weiß nicht viel über die Organisationen, aber ich weiß, dass das Leute sind, die Menschen helfen“, sagt er. Die Helfer geben ihm zu essen und trinken. Sie be- fragen ihn zu seiner Geschichte, wie es NGO-Mitarbeiter oft machen. Sie machen Fotos und versprechen eine sichere Unterkunft, nicht weit weg vom Hafen. Bereit- willig steigt Samir in einen Kastenwagen, der sie dorthin bringen soll.

Die Fahrt dauert keine zwanzig Minuten. Sie endet Sie vor einer großen Lagerhal- le in einer mit Zäunen umgebenen Siedlung aus Einfamilienhäusern. Vor den Häusern hätten Polizeiautos geparkt, sagt Samir. „Die Halle hat von außen wie eine Farm ausgesehen“.

Der Hafen von Zuwara

Die NGO-Helfer zeigen ihm den Raum, in dem er schlafen soll. Als er über die Türschwelle tritt, star- ren ihn im Zwielicht über 200 Augenpaare an, Ge- stalten, die Schulter an Schulter am Boden kauern. Die Helfer, bemerkt Samir, haben nun ihre Westen abgelegt. Die Freundlichkeit ist aus ihren Gesich- tern verschwunden. Als sie beginnen, auf die Ge- stalten am Boden einzuprügeln, dämmert es Samir, dass das keine echten Rotkreuz-Helfer sind, es sind Wachen. Dass er sich nicht in einem NGO-Stütz- punkt befindet, sondern in einem Gefängnis. Er wurde getäuscht und in eine Falle gelockt, so be- schreibt es Samir, so bestätigen es zwei weitere Per- sonen, die mit ihm unterwegs waren.

Es ist kein Gefängnis im herkömmlichen Sinne. Entlang der libyschen Migrationsrouten sind in den

vergangenen Jahren eine Vielzahl von Lagern und Anhaltezentren aus dem Boden geschossen. Manche davon sind semi-offizielle Einrichtungen, die etwa vom UNHCR besucht werden. Bei vielen anderen handelt es sich um private Gefängnisse, die vor- nehmlich einem Zweck dienen: von den inhaftierten Migranten Lösegeld zu erpressen. Es ist eine der wenigen Branchen in dem kaputten Land, die regelrecht florieren dürfte.

Es dauert nicht lange und die Wachen verlangen auch von Samir ein Lösegeld: 8000 Dinar (rund 5000 Euro) sollte er zahlen, um freizukommen, erzählt er. Ein ho- her Preis, Samir ist ein „Weißer“, ein Araber, kein Subsahara-Afrikaner. Und Araber, so die Faustregel der Schlepper, haben mehr Geld, als die zahlenmäßig viel größere Gruppe der Schwarzen, die im Gefängnis in einem anderen Raum festgehalten wer- den. Die müssen nur 500 bis 1000 Dinar zahlen, die nächste Bootsfahrt hinaus aufs Meer inklusive.

Das Lösegeld verhandelt ein Wachmann, der nie prügelt, sondern in einem Sessel am Gang den ganzen Tag lang Schischa raucht. Die Gefangenen nennen ihn "den Deutschen", weil er weiße Haut hat und fest gebaut ist. Samir erklärt dem "Deut- schen", dass er nicht zahlen werde. Mit seinem mitgeschmuggelten Handy kon- taktiert er einen Freund, der bei einer Einheit der libyschen Küstenwache ar- beitet. Der einflussreiche Freund ver- spricht, Samir zu helfen.


„Er hat die Leute für die Boote eingeteilt in Schwarze, Weiße und Familien und uns befohlen, ruhig zu bleiben."

In den kommenden Tage hört Samir dem "Deutschen" aufmerksam beim Telefo- nieren zu. So erfährt er, dass der Chef des Gefängnisses ein Mann namens „al- Amu“ sein muss, arabisch für „der Onkel“. Auch die Wachen bestätigen ihm, für den „Onkel“ zu arbeiten. Samir kennt den Namen, jeder in dieser Gegend weiß, wer der Schlepperkönig al-Amu ist. Vor seiner Abfahrt im Schlauchboot, in den frühen Morgenstunden am Strand der Stadt Sabrata, hatte er al-Amu beobachtet, wie er Befehle ausgab. „Er hat die Leute für die Boote eingeteilt in Schwarze, Wei- ße und Familien und uns befohlen, ruhig zu bleiben und an Bord nicht zu rau- chen“, sagt Samir.

Nach drei Tagen bekommt sein Küstenwachen-Freund Samir ohne Lösegeldzah- lung frei. „Warum ist el-Amu nicht längst im Gefängnis?“, fragt Samir nachdem er ins Auto gestiegen ist. Sein Freund lacht. „Al-Amu ist mächtig“, sagt er. „Er hat zu viele Freunde bei der Polizei und in den Behörden.“

Die Hafenstadt Sabrata ist gemeinsam mit der Nachbarstadt Zawiya der größte Umschlagplatz für Schlepper in Libyen. Vom langen Strand der Stadt aus startet der überwiegende Teil der überfüllten Holz- und Schlauchboote, wie man sie aus den Medien kennt. Hier kämpfen eine Reihe von Schlepperorganisationen um die Vorherrschaft über das lukrative Geschäft. Aber der mächtigste von ihnen ist Ach- med al-Dabbaschi, genannt al-Amu.

Libyschen Medien zufolge zeigt dieses Foto Achmed al-Dabbaschi, genannt al-Amu

Al-Dabbaschi hat es über die Grenzen Libyen hinaus zu Bekanntheit gebracht. Er ist der Chef „Brigade des Märtyrers Anas al Dabbaschi“, der stärksten bewaffneten Miliz in Sabrata. Es existieren wenige Fotos von ihm. Samir beschreibt ihn als un- tersetzten Mittdreißiger mit Vollbart. Al-Dabbaschis Clan kontrolliert Medienbe- richten zufolge auch eine zweite starke Miliz in der Stadt, die sogenannte Brigade 48, von der Regierung in Tripolis ursprünglich entsandt, um gegen den grassieren- den Ölschmuggel vorzugehen.

Ihre Einkünfte bezieht die Miliz des "Onkels" nicht nur aus dem Schmuggelge- schäft und Lösegeldern. Seit 2004 betreibt die italienische Ölgesellschaft Eni ge- meinsam mit der staatlichen libyschen Ölgesellschaft eine große Raffinerie in Mel- litah, westlich von Sabrata. 2015 war es zur Entführung mehrerer italienischer Mit- arbeiter der Raffinierie gekommen. Seitdem hat Eni dort neues Sicherheitsperso- nal unter Vertrag: die Milizen von „al-Amu“ Al-Dabbaschi.

Wenige Tage nach seiner Befreiung kommt Samir wieder in Sabrata an. Er will noch einmal versuchen, über das Mittelmeer zu fliehen. Wie beim ersten Mal sei auch diesmal al-Amu am Strand gewesen, sagt Samir. Jener Mann, aus dessen Lö- segeld-Gefängnis Samir soeben entkommen ist, teilt ihn nun wieder einem Boot zu. Es ist bunt bemaltes Holzboot, keine acht Meter lang, kleiner Außenbordmotor.

Sie warten mit dem Ablegen bis nach Sonnenuntergang. Dann ist das Risiko, von der Küstenwache erwischt zu werden geringer. Gegen 21:00 Uhr heult der Motor auf. Samir steuert gemeinsam mit 24 weiteren Menschen, die meisten aus Syrien, hinaus aufs tintenschwarze Meer.

Eine Zeitlang begleitet sie ein Boot mit den Männern al-Amus. Kurz nach zwei Uhr Nachts kehren die Schlepper um. Das bunte Holzboot pflügt nun alleine durch die mondlose Nacht. Ein kleines Mädchen beginnt zu weinen. Ihre Mutter wird später erzählen, dass sie glaubte, sterben zu müssen.

Nach fast drei Stunden am offenen Meer erscheint ein weißes Licht in der Dun- kelheit, das langsam größer wird. Vom Such-Scheinwerfer geblendet erkennt Sa- mir erst die Umrisse eines Schiffes, dann den roten Bug der „Prudence“.

Samirs Name und Herkunftsland wurden aus Gründen seiner Sicherheit für diesen Artikel geändert.

Teil drei: Rettungseinsatz

Kurz vor fünf Uhr in der Früh bemerkt die Nachtwache auf der Brücke der „Pru- dence“ einen blassen Fleck am Radarschirm. Üblicherweise ist es die italienische Küstenwache, die den NGO-Schiffen die Koordinaten von Migrantenbooten durchgibt. Diesmal ist kein Funkspruch eingegangen. Der Matrose auf der Brücke alamiert den Kapitän und den Leiter des MSF-Teams. Gemeinsam beschließen sie, auf das unbekannte Objekt Kurs zu nehmen und die Crew zu wecken. Es könnte ein libyscher Fischer sein – oder ein Flüchtlinge in Seenot.

45 Minuten später ist klar, dass Flüchtlinge an Bord sind. Die Rettung verläuft rei- bunglos. Aber kein Mitglied der Crew an Bord kann sich daran erinnern, ein klei- neres Flüchtlingsboot mit weniger Leuten an Bord gesehen zu haben. Es ist nach der langen Wartezeit das nächste ungewöhnliche Ereignis auf der "Prudence". Das kleine Boot nährt den Eindruck, dass sich die Dinge auf der Mittelmeer-Route ge- rade ändern.

Unter den geretteten Bootsinsassen ist auch Samir. Die Gruppe verbringt nur wenige Stunden auf der „Prudence“. Während die meisten anderen nach einer durchwachten Nacht auf dem Meer am Hauptdeck ausschlafen, erzählt er uns seine Geschichte: von den falschen Rotkreuz-Mitarbeitern, dem Gefängnis, dem "Onkel". „Hat er dir von al-Amu erzählt?“, fragt MSF-Mitarbeiter Laith Moham- mad nach dem Gespräch. „Von dem hören wir hier oft.“

Kurz vor Sonnenaufgang erreicht die "Prudence" ein Holzboot mit 25 Personen an Bord

Die Flüchtlinge sind zum Großteil palästinensische Syrer. Unter ihnen ist auch Samir aus Algerien

An Bord des Holzboots befanden sich 16 Männer, drei Frauen und sechs Kinder

Die Geretteten bleiben nur wenige Stunden auf der "Prudence". Sie werden auf ein anderes Schiff transferiert, das früher nach Italien zurückkehrt

Das Holzboot war nicht nur ungewöhnlich klein. Die Insassen hatten teil- weise auch Gepäck mit. Das ist vor allem bei Flüchtlingen aus Syrien üblich, die meist mehr Geld zur Verfügung haben, als Afrikaner

Die Beiboot-Besatzungen haben vor allem die Auf- gabe, zu Beginn einer Ret- tung Schwimmwesten zu verteilen

Anfang August rettet die Crew der "Prudence" 127 Personen an Bord eines Schlauchboots

Während der Rettungsak- tion erscheint ein Schnell- boot der libyschen Küstenwache. Die Rettung kann schließlich fortgesetzt werden

Die Bootsinsassen warten darauf, über eine Strickleit- er an Bord zu steigen. Frauen und Kinder haben Vorrang

Die Bootsinsassen warten darauf, über eine Strickleiter an Bord zu steigen. Frauen und Kinder haben Vorrang

Die Besatzung des libyschen Küstenwach- boots nimmt Motor und Treibstoff an sich und versenkt anschließend das Schlauchboot

Armbänder sollen im Fall mehrerer Rettungseinsätze anzeigen, aus welchem Boot die Person an Bord gekommen ist

Abendgebet muslimischer Geretteter am Hauptdeck

Die Menschen müssen am Hauptdeck auf dem Bo- den schlafen. MSF stellt Fleecedecken und frische Kleidung zur Verfügung

Jede Person erhält eine Essensration pro Tag. Sie besteht aus süßen Sesamtafeln, Rosinen und Fruchtsaft – insgesamt 2000 Kilokalorien

Nach der Verteilung der täglichen Essensration am Hauptdeck. Auf der "Pru- dence" haben bis zu 1000 Menschen Platz

Die Migranten und Flüchtlinge schlafen unter dem Dach am Hauptdeck, wo sie die kommenden Tage untergebracht sein werden

Junge Migranten blicken am Heck der "Prudence" zurück Richtung Libyen

Das erste von zwei Schnellbooten der italienis- chen Küstenwache erre- icht die "Prudence" vor Lampedusa, um die Geretteten zu übernehmen

Übergabe an die italienis- che Küstenwache vor Lampedusa

Die Küstenwache wird die Menschen nach Lampe- dusa bringen, wo sie zunächst in einem soge- nannten "Hotspot" der EU untergebracht sein werden

Eines der Schnellboote legt ab und macht sich auf den Weg nach Lampedusa

Das Hauptdeck, wo die Geretteten auf der „Pru- dence“ Frühmorgens un- tergebracht wurden, ist bald wieder leer. Schon am Nachmittag werden sie an ein anderes NGO- Schiff übergeben, das be- reits wieder auf dem Weg nach Italien ist.

Schließlich bleibt die "Prudence" auch nicht viel länger. Ein Sturm zieht auf, der Kapitän beschließt, auf Malta Schutz zu suchen und Lebensmittel an Bord zu nehmen.

Drei Tage später kreuzt die "Prudence" wieder vor der libyschen Küste. Diesmal dauert das Warten bis zum nächsten Rettungseinsatz knapp eine Woche. Es be- steht nun kein Zweifel mehr, dass die Mittelmeer-Route von irgendwem, irgendet- was blockiert wird. Mittlerweile ist es der 3. August. Mit Rettungsaktionen rechnen nun noch wenige an Bord, als kurz vor acht Uhr der Funkspruch eines Aufklä- rungsflugzeugs der spanischen Marine auf der Brücke der „Prudence“ eingeht. In rund zehn Seemeilen Entfernung treibe ein Schlauchboot im Meer.

127 Menschen befinden sich in dem Boot, hauptsächlich Männer, aber auch Frau- en und Kinder. Der Einsatz verläuft ohne Zwischenfälle, bis ein Schnellboot der libyschen Küstenwache erscheint. Die Stimmung ist angespannt. Zunächst ist un- klar, was die Männer wollen.

In der Vergangenheit ha- ben Schiffe der libyschen Küstenwache bereits auf NGO-Schiffe geschossen. Sollte sich die Besatzung dieses Boots dazu ent- schließen, die Migranten zurück nach Libyen zu bringen, kann die Crew der „Prudence“ nichts da- gegen tun. Die Männer der Küstenwache tragen keine Waffen, zumindest nicht offen. Sie bieten ihre Hilfe bei der Rettung an, was der Kapitän der „Pru- dence“ ablehnt.

Video: Rettung von 127 Personen an Bord eines Schlauchbootes

Nachdem alle Migranten über eine Strickleiter an Bord gestiegen sind, nehmen die Libyer Motor und Treibstoff aus dem Schlauchboot an sich. Dann schneiden sie die Schläuche mit Messern auf.

Es ist bisher nicht oft vorgekommen, dass sich die Küstenwache in Rettungseinsät- ze einmischt. Noch seltener passiert es, dass sie am nächsten Tag gleich nochmal erscheint. Der Großteil der Crew schläft noch, als ein anderes Schnellboot gegen sieben Uhr in der Früh mehrere Runden um das Schiff dreht. Diesmal liegt eine Kalaschnikov offen an Deck. Die Männer der Küstenwache geben an, auf der Su- che nach einem Holzboot zu sein, aber niemand hat etwas gesehen. Das Schnell- boot zieht daraufhin wieder ab. Doch die Begegnungen sind Vorboten für die ag- gressivere Haltung gegenüber den NGOs, die die Küstenwache in Zukunft einneh- men wird.

Die „Prudence“ macht sich auf Anweisung der italienischen Küstenwache auf den Weg nach Lampedusa, einer kleinen italienischen Insel, die näher an Afrika als an Italien liegt.

Lampedusa hat schon des öf- teren als Anlaufstelle für Schiffe mit Flüchtlingen an Bord gedient.Noch auf offe- ner See sollen die Geretteten an die dortigen Behörden übergeben werden. Das sei einfacher, heißt es, als in den Hafen der Insel zu fahren, dessen Mole für die „Pru- dence“ zu niedrig sei. Die Übergabe der 127 Personen, die meisten aus Kamerun, Si- erra Leone und Guinea Bissau, verläuft planmäßig in der Nacht. Wie es mit ihnen weitergeht, ist ungewiss.

Video: Übergabe der Geretteten vor Lampedusa

Die "Prudence" nimmt nun nach drei Wochen wieder Kurs auf Catania in Sizilien, wo MSF ein Büro unterhält und Vorräte geladen werden sollen. Dort angekom- men, bewahrheiten sich die Befürchtungen der Crew: Ein Sprecher der libyschen Marine gibt öffentlich bekannt, dass die Küstenwache auch in internationalen Ge- wässern künftig härter gegen Rettungsschiffe vorgehen werde.


Am 12. Ausgust, fünf Tage nach der Ankunft in Catania, setzt Ärzte ohne Grenzen den Einsatz der „Prudence“ aus. Die Lage vor der libyschen Küste sei zu gefähr- lich geworden. Bis heute ist das Schiff nicht mehr in Richtung Libyen ausgelaufen.

Teil vier: Der Deal

Anfang August rätselt Europa noch über den Rückgang der Migrantenzahlen in Italien. Zwar hat die von Italien unterstützte libysche Küstenwache ihre Aktivitä- ten verstärkt. Sie fängt Migranten-Boote nun ab, bevor die internationale Gewässer erreichen. Aber sie alleine wäre kaum dazu in der Lage, das Geschäft der schwer- bewaffneten Schlepper derart einzuschränken. Was die Crew der „Prudence“ nicht wissen konnte: Die Schlepper selbst hatten beschlossen, keine Boote mehr loszuschicken. Aber warum würden sie freiwillig auf die satten Profite aus der Schlepperei verzichten?


Die Antwort hat wieder mit Achmed „al-Amu“ al-Dabbaschi zu tun. Vieles deu- tet darauf hin, dass der Schlepperkönig von Sabrata bereits einen Deal in der Ta- sche hatte, als er Ende Juli den Algerier Samir in das bunt bemalte Holzboot setz- te, das später von der „Prudence“ geborgen wurde.


Es ranken sich zahlreiche Gerüchte darüber, was genau in der Zeit zwischen Mitte und Ende Juli in Sabrata passiert ist. Als sicher gilt, dass es im Hintergrund eine Abmachung gegeben haben muss. Der Nachrichtenagentur AP bestätigt ein Spre- cher der Miliz Al-Dabbaschis Ende August einen Deal zwischen der Miliz des On- kels, der Regierung in Tripolis – und der italienischen Regierung.

Libysche Schlepperhochburgen und Rettungszonen vor der Küste

Fünf Millionen Dollar, diese Zahl wird immer wieder genannt, sollen Al-Dabba- schi angeboten worden sein. Außerdem Teil der Abmachung laut Medienberich- ten: Ausrüstung, Waffen, Medikamente sowie Amnestie und Anerkennung für Kämpfer der Miliz. Im Gegenzug würde der Onkel für das Ende der Schlepperei auf seinem Küstenabschnitt in Sabrata sorgen.

Der AP bestätigt ein hoher Offizieller im Innenministerium der Regierung in Tri- polis, dass es ein Treffen der Italiener mit Vertretern der Miliz gegeben habe. Wie viel des Geldes und der Ausrüstung tatsächlich in die Hände der Milizen gelangt, ist unklar. Sicher ist, dass die Zahl der Migranten just in diesem Zeitraum ein- bricht. Die italienische Regierung streitet bis heute ab, mit Milizenführern Abma- chungen getroffen zu haben.

Die Migration über das Meer verlangsamt sich, so scheint es zumindest. Die Mittel- meer-Route beherrscht bald nicht mehr die Schlagzeilen . In Österreich wendet sich der schwelende Wahlkampf langsam anderen (Migrations-)Themen zu. Doch im zerrütteten Bürgerkriegsland Libyen gibt es für Europa keine einfachen Lösungen.

Wie fragil die Abmachung ist, zeigen die Ereignisse vom Wochenende des 16. September. Es wird bekannt, dass die italienische Regierung den umtriebigen Ge- neral Kalifa Haftar nach Rom eingeladen hat, eine der schillernden Figuren im li- byschen Bürgerkrieg und Chef der sogenannten Libyschen Nationalarmee. Haftar steht mit seinen Soldaten auf der Seite der ostlibyschen Regierung in Tobruk, die mit der Regierung in Tripolis im Clinch liegt.

Haftar diente in den Siebzigern und Acht- zigern als Offizier in der Armee Muammar al-Gaddafis, bevor er die Seiten wechselte und sich 1990 in die USA absetzte. Dort lebte er in unmittelbarer Nähe zum CIA- Hauptquartier in Virginia, erlangte sogar die US-Staatsbürgerschaft.

Nach dem Sturz des libyschen Diktators im Arabischen Frühling kehrte Haftar 2011 nach Libyen zurück und führt seit- dem mit einigem Erfolg seine Soldaten im Kampf gegen Islamisten und gegen die Regierung in Tripolis an. Der gesamte Os- ten des Landes befindet sich aktuell unter seiner Kontrolle.

Haftar ist auch mit den Milizen in Sabrata verfeindet. Er hat bereits öffentlich kundgetan, der Schlepperei in Libyen ein Ende bereiten zu wollen. Seine Einla- dung nach Rom erhitzt daher die Gemüter. Die Reaktion der Schlepper: Am Wo- chenende des 16. September, eine Woche vor der geplanten Ankunft Haftars in Rom, starten von Sabrata aus wieder zahlreiche Schlauchboote. Über 15 Rettun- gen führten die Helfer auf den Schiffen innerhalb weniger Stunden durch. Rund 1800 Menschen an einem Wochenende bedeuteten die höchsten Ankunftszahlen in Italien seit Mitte Juli. Es ist die Rache der Schleppermilizien in Sabrata und ein Signal an die italienische Regierung: Wenn ihr uns hintergeht, öffnen wir die Mit- telmeer-Route wieder. Mehrere Hundertausend Migranten und Flüchtlinge wer- den in Libyen vermutet. Sie dienen nun als Faustpfand für Zahlungen Europas.

General Haftar reist trotzdem wie geplant nach Rom. Es ist ein Anzeichen, dass sich der Wind wieder dreht. Eine angeblich mit General Haftar verbündete militärische Einheit, die sich „Operations Room“ nennt, geht in Sabrata gegen die Miliz des „Onkels“ vor. Mindestens 26 Kämpfer und Zivilisten kommen ums Leben. Anfang Ok- tober ist der Clan al-Dabbaschis besiegt. „Es ist vorbei. Sie haben Sabrata übernom- men“, sagt ein hochrangiges Mitglied der Miliz in der ersten Oktoberwoche der Nachrichtenagentur Reuters. Dem Schlep- perkönig al-Amu ist die Kontrolle über Sa- brata und damit über die lukrativste Schlepperroute Libyens entglitten.

General Kalifa Haftar

Reuters/Esam Omran al-Fetori

AFP / Mahmud Turkia

Die Folgen der fast dreiwöchigen Kämpfe in Sabrata

Migranten beseitigen Spuren der Kämpfe in Sabrata

Eine Schießerei an einem Checkpoint in Sabrata, bei der ein Mitglied der Dab- baschi-Miliz starb, gilt als Auslöser des Konflikts

Die im Jahr 2016 zur Vertreibung des IS aus Sabrata gegrün- dete Miliz "Operations Room" ging aus den Kämpfen siegreich hervor

Seitdem ist es ruhig in Sabrata. Libysche Medien berichten, dass die neuen Herr- scher in der Stadt die Migranten an der Überfahrt hindern würden. Laut der In- ternationalen Organisation für Migration (IOM) sind 2017 bis Anfang November rund 114.000 Personen über die Mittelmeer-Route nach Italien gelangt. Das ist ein Rückgang von 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2839 Personen starben bei dem Versuch, Europa zu erreichen.


Die Ruhe trügt. Denn die Ankunftszahlen bewegten sich von August bis Novem- ber immer noch zwischen 5000 und 6000 Personen pro Monat. Zwar waren es in der ersten Jahreshälfte im Schnitt doppelt so viele. Doch geschlossen war die Rou- te nie. Und die vor der Küste verbliebenen NGOs und die Schiffe der EU-Mission Sophia vermelden aktuell wieder vermehrt Rettungsaktionen.


In der ersten Novemberwoche holten sie 2560 Menschen in nur vier Tagen aus dem Meer. Weil Sabrata für Schlepper nicht mehr infrage kommt, sind sie laut IOM auf zwei andere Städte östlich von Tripolis ausgewichen: Garabulli und Kho- ms. Es ist für die Schlepper auch eine Art Rückkehr. Aus Garabulli war jener Fisch-Trawler gestartet, der im April 2015 vor der libyschen Küste sank. Von den etwa 700 Flüchtlingen und Migranten an Bord überlebten lediglich 28. Es gilt als das schlimmste Unglück im Mittelmeer seit dem Zweiten Weltkrieg.


Trotz der Gefahr wagen auch im Herbst 2017 noch Tausende Migranten und Flüchtlinge die Überfahrt. Nicht zuletzt die humanitäre Lage in Libyen treibt sie nach wie vor hinaus aufs Meer. Die UN-Organisation IOM bietet heuer zwar ver- stärkt freiwillige Rückführungsflüge aus Libyen in die Heimatländer an. Doch ob- wohl die erwarteten 10.000 Rückführungen bis Jahresende einen Erfolg bedeuten – die Zahl der Migranten in Libyen wird auf 500.000 bis 600.000 geschätzt.


Auch das Sterben geht weiter. Am vergangenen Sonntag lief das spanische Mari- neschiff „Cantabria“ mit den Leichen von 26 jungen Frauen und Mädchen aus Ni- geria im Hafen von Salerno ein. Ihr Boot war vor Libyen untergegangen, die Ret- tungsschiffe hatten es nicht rechtzeitig an den Unglücksort geschafft. 50 weitere Personen sind vermisst. In Salerno seien nicht zum ersten Mal Tote aus dem Mit- telmeer angkommen, sagte Salvatore Malfi, der Präfekt der Hafenstadt. Aber so viele waren es noch nie. „Es ist eine Tragödie für die Menschheit“, sagte er.


Zusätzliche Fotos von Reuters (Hani Amara und Esam Omran al-Fetori), AFP / Mahmud Turkia, Google Maps und alwatanlibya.net

Text, Konzept & Videos: Moritz Gottsauner-Wolf

Fotos: Jürg Christandl

Schnitt: Paul Batruel

Umsetzung:  Peter Draxler

Offenlegung: Diese Reise auf der "Prudence" wurde von Ärzte ohne Grenzen ermöglicht, die unsere zwei Reporter durch die Mitfahrt am Schiff bei ihrer Recherche unterstützten. Der KURIER übernahm die Reisekosten für die beiden Kollegen, MSF die Unterbringung am Schiff.

© 2017