UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE

Junge arabische Männer rufen die größten Ängste in der Bevölkerung hervor. Sie seien hormonbeladene, gewalttätige Zeitbomben. Samim, Hussain und Mansoor wissen und merken, dass die Stimmung bei vielen umgeschlagen hat.

Wie alt Samim, Hussain und Mansoor sind, darf nicht gefragt werden. Auch nicht, warum sie aus Afghanistan geflüchtet sind. Die drei jungen Männer haben noch keinen positiven Asylbescheid in Österreich erhalten, die Verfahren laufen noch. Daher rät ihre Betreuerin, zu schweigen, damit sie sich durch etwaige Aussagen nicht selbst belasten. Samim, Hussain und Mansoor kamen vor neun Monaten nach Österreich, sie mussten alleine flüchten, ohne ihre Familien. Damit wurden sie zu dem, was in der politischen Sprache das Sorgen-Kürzel UMF erhält: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Knapp 6.300 gibt es von ihnen hierzulande derzeit. Sie werden grundversorgt und sie sind die schutzbedürftigsten unter den Flüchtlingen – gleichzeitig allerdings auch jene, die die größten Ängste in der Bevölkerung hervorrufen. Wegen ihnen wechseln Frauen im Dunklen die Straßenseite und vor ihnen wollte so mancher die Türen der Schwimmbäder verschließen. Sie sind junge arabische Männer, über die seit diesen schockierenden Verbrechen, wie etwa in der Silvesternacht in Köln, alle reden. Sie seien mit Hormonen beladene, gewalttätige Zeitbomben, denen man lieber aus dem Weg geht und die nur Unheil brächten. Doch für ihre zuhause gebliebenen Familien in Syrien oder Afghanistan sind sie die einzige Hoffnung auf ein sicheres Leben, ohne Krieg und ohne Angst. Samim, Hussain und Mansoor. Hier, im Jugend-Flüchtlingsheim Haus Papageno der Diakonie, haben sich die Jungs kennengelernt und sind mittlerweile

Text von Yvonne Widler


Fotos von Thomas Schwantzer

„Wir hatten noch nie eine Schlägerei“

gute Freunde geworden. Drei junge Männer, drei unterschiedliche Geschichten. Doch erzählen dürfen sie kaum etwas über ihr Schicksal, jedenfalls noch nicht.

„Ab 18 ist es unmöglich“

Die Gesetze in Österreich sehen vor, dass hierher geflüchtete Minderjährige zuerst einen Asylantrag stellen müssen. Da die mitgebrachten Dokumente – so überhaupt vorhanden – in vielen Fällen gefälscht sind, wird mittlerweile bei allen ankommenden Jugendlichen

eine Altersfeststellung durchgeführt. Diese besteht aus einem Handwurzelröntgen sowie aus einer Zahnstandsanalyse. Ist sich der zuständige Referent beim Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen noch immer nicht sicher, so kann er ein MRT des Schlüsselbeins und eine "Körperbeschau", bei der Behaarung und Geschlechtsteile begutachtet werden, veranlassen.  Kommt die Behörde zum Schluss, dass der Jugendliche tatsächlich minderjährig ist, muss er oder sie zum Asylverfahren in Österreich zugelassen werden und ist dann beispielsweise am 1.1. 2001 geboren, wie in den neuen Dokumenten stehen wird. Dem festgestellten Alter kommt eine große Bedeutung zu. Einem Minderjährigen, der einen positiven Asylbescheid erhält oder als subsidiär schutzberechtigt gilt, wird der Nachzug der Familie prinzipiell gewährt. „Ab einem Alter von 18 Jahren ist dies allerdings unmöglich“, wie Lisa Wolfsegger von der Asylkoordination erklärt. Ein positiver Asylbescheid ermächtigt den Jugendlichen sofort dazu, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. Ein subsidiär Schutzberechtigter müsste nach dem geltenden Gesetz drei Jahre warten, bis er darum ansuchen darf, Verwandte nachzuholen. Wäre der UMF also 15 Jahre alt bei der Ankunft in Österreich, würde sich dies zeitlich gar nicht mehr machen lassen. Nun wird offensichtlich, warum das Alter ein sehr heikles Thema ist. Es entscheidet darüber, ob Samim, Hussain und Mansoor ihre Eltern wieder sehen werden - oder vielleicht nie wieder.

Nach Auskunft des Innenministeriums würden es lediglich zehn Prozent der geflüchteten Jugendlichen schaffen, ihre Familie nachzuholen. Das liegt unter anderem auch daran, dass deren Eltern gültige Dokumente nachweisen müssen, um die wahre Identität festzustellen. Womöglich kommen noch Kosten für einen DNA-Test hinzu und schließlich die Flugtickets für die Reise nach Österreich. Dem Alter kommt im österreichischen Asylwesen noch eine zweite große Bedeutung hinzu. Werden UMF volljährig, so müssen sie umgehend in Quartiere für Erwachsene übersiedeln,

ohne entsprechende engmaschige Betreuung und Begleitung. Der Tagessatz für UMF liegt zwischen 62 und maximal 95 Euro pro Tag und Jugendlichen. Und er liegt bei lediglich 19 Euro für erwachsene Flüchtlinge.

„Einfach nur ein sicheres Leben“

Samim, Hussain und Mansoor wissen das. Sie wissen, dass sie es hier im Haus Papageno, das direkt an der Wienerbergstraße hinter einer Tankstelle gelegen ist, sehr gut haben. Fünfmal die Woche wird ein Deutschkurs angeboten. Durch die Gänge schlendern modern gekleidete Jungs mit Kopfhörern in den Ohren, versunken in den Bildschirmen ihrer Smartphones. Gemeinsam wird gekocht, ihre Freizeit verbringen sie

am Praterstern. Sie merken, dass die Vorkommnisse der letzten Zeit dazu geführt haben, dass die Menschen sie anders ansehen. „Nicht viele, aber manche“, sagt Samim. „Ich will einfach nur ein sicheres Leben führen und eine Chance auf eine bessere Zukunft haben.“ Die anderen beiden nicken. „Wir hatten noch nie eine Schlägerei oder dergleichen“, sagt Mansoor. Im Haus Papageno wohnen ausschließlich männliche UMF. Die meisten nehmen das Angebot der psychologischen Betreuung in Anspruch. „Ich fühle mich wirklich besser nach diesen Gesprächen“, sagt Mansoor, der eine schwarz umrahmte Brille trägt und ein

T-Shirt mit dem Aufdruck „Serial Chiller.“ Mansoor erzählt, es sei eine furchtbare Zeit gewesen in Afghanistan und auch die Flucht, die hinter ihm liegt, die müsse er erst aufarbeiten. Mehr sagt er nicht dazu. Doch man weiß über die Gefahren der jungen Männer in den von Unruhen und Kriegen gebeutelten Ländern, wo sie meist herkommen: Zwangsrekrutierung, ständige Lebensgefahr, politische Verfolgung.

Samim, Hussain und Mansoor bekommen Schulmaterial, Essen, Schuhe und Gewand aus Spenden geschenkt. Zusätzlich gibt es alle sechs Monate Gutscheine für Kleidung sowie etwas Taschengeld, über das sie frei verfügen dürfen. Um 22 Uhr ist Nachtruhe, da müssen alle in ihren Betten liegen. „In den Ferien dürfen wir bis 24 Uhr aufbleiben“, sagt Hussain und grinst schelmisch. Am liebsten essen sie Pizza und die

Ramadan-Kalender. „Der ist von meinem Zimmernachbarn, mich interessiert das überhaupt nicht“, sagt Samim leicht abwertend. Haben die Jungs noch Fotos von früher oder irgendetwas mitnehmen können, das sie an zuhause erinnert? „Nein, ich habe gar nichts mehr.“ Samim möchte so schnell wie möglich die Schule abschließen und dann studieren, er will Informatiker werden. Man sieht dem jungen Mann an, dass ein enormer Druck auf ihm lastet. Hussain darf im September mit der Schule beginnen und Mansoor hofft

noch auf einen Schulplatz. Hussain ist der schüchternste der drei Jungs, er spricht sehr leise und versteckt seine schiefen Zähne, wenn er antwortet. Er steht nicht gerne im Mittelpunkt, das merkt man. „In der Vergangenheit war mein Leben immer voll mit Krieg, hier fühle ich mich sicher. Egal, wie oft wir Dinge fragen, wir bekommen immer Antworten. Das kenne ich so gar nicht.“ Hussain zeigt sein schönstes und wichtigstes Stück in seinem Kasten. Ein Hemd, das er aus Afghanistan mitgebracht hat. Stolz führt er es vor. Mansoor sagt nur, dass er seine Eltern so sehr vermisst und holt eine grüne Kette hervor. Sein Vater hat sie ihm geschenkt.

Samim weiß, dass er schnell Deutsch lernen muss.

Tatsache, dass in Österreich Burschen und Mädchen gemeinsam in einer Schulklasse sitzen, die bringt sie ebenfalls zum Grinsen. „Das mag ich sehr“, sagt Samim. Er ist der einzige der drei Jungs, der hier bereits in die Schule gehen darf. „Ich gehe in die Koppstraße im 16. Bezirk“, sagt er in gut verständlichem Deutsch. „Samim ist wirklich unglaublich motiviert. Er lernt rund um die Uhr, ist blitzgescheit und den anderen weit voraus. Man muss bedenken, dass er noch nicht einmal ein Jahr hier ist“, sagt die Betreuerin. Samim zeigt sein Zimmer und präsentiert voll Stolz seinen Arbeitsplatz, es sei sein eigener, kein anderer dürfe den Schreibtisch benützen.

Überall kleben kleine Zettel, die ihn an Termine erinnern, Zeichnungen liegen herum und zwei goldene Pokale stehen neben dem Bett. „Die habe ich beim Kick-Boxen gewonnen.“ An seinem Kasten hängt ein Foto von einem Betreuer, daneben ein

Mansoor und seine einzige greifbare Erinnerung an zuhause.

Hussein und Mansoor teilen sich ein Zimmer.