Ihr Name ist Agnes Gura. Kurz geschorene Haare, fast tonlose Stimme, stets wandernder Blick. Entgegen der Prognosen regnet es heute nicht. Sie muss den Tag nicht in ihrer Behausung ver- bringen, die aus UNHCR-Planen notdürftig errichtet wurde; sitzt in einem Kleid im Zebramus- ter in der Sonne und erzählt Schicksalsschlag um Schicksalsschlag. Ungerührt, als hätte sie alle Tränen bereits aufgebraucht. Sie wuchs nahe des Städtchens Kajo Keij im Südsudan auf. Ihr Va- ter starb, da war sie noch klein. Als ihre Mutter wieder heiratete, war für Agnes kein Platz in dieser neuen Familie; ihre Großmutter kümmerte sich fortan um sie. Ein paar Jahre später stürzte die Großmutter, erholte sich nicht mehr, starb ebenfalls. Agnes Guras Welt brach zusammen.


Ungefähr zur selben Zeit kollabierte auch der gerade erst entstandene Staat, in dem sie lebte. Aber davon bekam sie nichts mit. Sie lebte fortan allein, beackerte Land, verkaufte Teile der Erträge. Der Staat spielte in ihrem Leben nie eine Rolle. Bis im Juli 2017 Regierungssoldaten ihr Dorf überfielen und seine Bewohner vor ihren Augen niedermetzelten. Sie flüchtete, wie sie lebte – alleine. Auf ihrer Flucht nach Uganda, mehrere Tage zu Fuß und ohne Verpflegung, wurde sie von einem Soldaten vergewaltigt; sie erzählt es fast beiläufig. Agnes Gura ist sechzehn Jahre alt. Letztendlich schaffte sie es an die Grenze, von der sie nach Imvepi gebracht wurde, eine Flüchtlingssiedlung im Norden Ugandas, in der rund 123.000 Menschen leben. Sie ist einer von einer Million. So viele Flüchtlinge aus dem Südsudan leben mit August 2017 in Uganda.

In den Medien finden sie kaum statt, aber die größten Flüchtlingsbewegungen haben nicht Europa als Ziel, sie passieren in Afrika selbst. Und kein anderes afrikanisches Land hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als Uganda. Zur Million Flüchtlinge aus dem Südsudan kommen noch rund 300.000 aus dem Kongo, Somalia und Burundi. Uganda verfolgt einen neuen Ansatz bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen.


Alle sind willkommen. Nicht nur das: Sie dürfen arbeiten und bekommen ein Stück Land zugewiesen. Sie leben in Siedlungen, nicht Camps. Nicht zusammengepfercht und eingezäunt, sondern auf rund 375 Quadratkilometern über den Norden Ugandas verstreut.

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Alle Flüchtlinge sind willkommen

Vieles davon ist auf die New Yorker Deklaration über den Umgang mit Flüchtlingen zurückzuführen, die im September des Vorjahres beschlossen wurde und einen neuen Rahmen für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen setzen will. Es finden sich darin große Worte, die schnell zu hohlen Phrasen werden könnten, wenn sie nicht mit Leben gefüllt werden: Die Menschenrechte aller Flüchtlinge achten. Bildung für Flüchtlinge garantieren. Kinder nicht mehr einsperren, bis ihr Asylstatus geklärt ist. Fremdenfeindlichkeit gegen Flüchtlinge bekämpfen. Und vieles mehr.

Uganda soll das Musterland für diese neue Flüchtlingspolitik sein. „Flüchtlinge haben einen positiven Effekt auf die lokale Wirtschaft, das ist durch mehrere Studien belegt. Wir müssen aufhören, Flüchtlinge als Bürde zu sehen“, sagt Isabelle d'Haudt, Leiterin des EU-Amtes für humanitäre Hilfe (ECHO) in Uganda. Von der EU erhielt das Land seit Ausbruch der Krise 65 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und 20 weitere Millionen für nachhaltige Unterstützung der Flüchtlinge.

An den Grenzen der Belastbarkeit

Zur Registrierungsstelle von Imvepi in der Region Arua führt eine unbefestigte Straße, gesäumt von Schlaglöchern. Unter weißen Zelten werden die ankommenden Flüchtlinge registriert, geimpft und zu ihrer Flucht befragt. Auch heute sitzen viele dutzende Menschen hier und warten, bis sie biometrisch erfasst werden. Es ist ein ruhiger Tag, durchschnittlich haben in den vergangenen Jahren rund 1.800 Menschen pro Tag die Grenze Richtung Uganda überquert.

Allein bei der Registrierungsstelle Imvepi wurden zu Hochzeiten 6.000 Mahlzeiten ausgegeben, erzählt Chefkoch Simon Odong: „Wir sind von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends in der Küche gestanden.“ Ein provisorisch aufgebautes Gebäude weiter sitzen rund 25 Kinder am Bo- den. Sie alle sind heute angekommen, alle ohne ihre Eltern. Manche spielen mit Autos und Pup- pen ohne Gliedmaßen, andere sitzen einfach nur stumm da. Jene, die nicht sprechen, haben die schlimmsten Traumata, erzählt eine Betreuerin. Sie spricht aus Erfahrung.

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Bidi Bidi ist das größte Flüchtlingscamp der Welt

Mittlerweile ist der ostafrikanische Staat nun an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen. 665 Millionen Euro an Hilfsgeldern wären laut den Vereinten Nationen für den Südsudan nötig, knapp ein Viertel davon steht zur Verfügung.

Die Siedlung Bidi Bidi in der nordugandischen Provinz Yumbe wurde erst im August 2016 eröffnet und ist ein Jahr später mit rund 287.000 Menschen bereits das größte Flüchtlingscamp der Welt.

Rund 3.000 Kinder besuchen die von der finnischen Kirche betriebene Schule im Camp, bis zu 600 in einer Klasse. Am Platz vor den Klassenzimmern werfen die Kinder Papierflieger, treten aus Kleidungsfetzen zusammengebastelte Bälle, umringt von seinen Mitschülern zeichnet einer mit Filzstift einen FC-Barcelona-Spieler. In den Klassenzimmern ist der Lärm ohrenbetäubend; die Schule ist mehr Zeitvertreib als echte Bildung. Zweieinhalb Stunden Fahrt mit dem Jeep dauert es von der Schule ins Hauptquartier, so gigantisch ist die Siedlung.

„Die größte Herausforderung ist die Infrastruktur“, sagt dort Robert Baryamwesiga, der Bidi Bidi leitet. Noch immer muss die Hälfte des benötigten Wassers mit Trucks angeliefert werden. Die Straßen sind schlecht und in der Regenzeit kaum befahrbar. Aus den temporären Gebäuden müssen permanente werden. „Wir müssen jetzt beginnen umzudenken, von der Notfallhilfe zur Nachhaltigkeit“, sagt Baryamwesiga. In dem Wissen, dass „die Hilfe einmal zu Ende sein wird“. Dass die Flüchtlinge selbstständig werden müssen, eine Existenz aufbauen, obwohl sie mit Nichts gekommen sind, obwohl viele von ihnen schwer traumatisiert sind. In friedlicher Koexistenz mit ihren neuen Nachbarn, die schon ihr Leben lang hier wohnen.

Denn ganz reibungslos läuft es natürlich nicht ab, wenn eine Region plötzlich hunderttausende Menschen beherbergt, die vor zwei Jahren noch nicht hier waren. Die Hilfsbereitschaft ist zwar groß; viele gaben freiwillig Teile ihres Grundes an Flüchtlinge ab, der sowieso nie bewirtschaftet wurde. Aber sie kam nicht ganz bedingungslos.


„Es gibt die Erwartungshaltung von vielen Einheimischen, Jobs im Camp zu bekommen“, sagt Bidi-Bidi-Leiter Baryamwesiga – quasi als Gegenleistung dafür, die Flüchtlinge willkommen zu heißen.

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„Aber wir können nicht jemanden als Arzt einstellen, der die Qualifikation nicht hat, nur weil er Land gespendet hat.“ Konflikte gab es auch über den Zugang zu Wasser, die lokale Bevölkerung fühlte sich benachteiligt gegenüber den Flüchtlingen. „Die Zustände sind noch nicht alarmierend, aber wir müssen das im Auge behalten. Das Schöne ist, dass sich alle des Problems bewusst sind und versuchen, Lösungen zu erarbeiten“, sagt Isabelle d’Haudt von Echo.

"Das nächste Mal könnte ich es sein"

Aber warum nimmt Uganda überhaupt so viele Flüchtlinge auf? Die Antwort auf diese Frage hat viel damit zu tun, dass der Norden Ugandas kaum entwickelt ist. Wo nun Bidi Bidi entstanden ist, war vorher größtenteils Dschungel. Viele Menschen hier haben wenig mehr als jene, die vor dem Krieg geflüchtet sind. Vor zehn Jahren tobte im Norden Ugandas ein Krieg zwischen der Regierung und den christlichen Extremisten der Lords Resistance Army von Joseph Kony.


Wer den Krieg am eigenen Leib erlebt hat, steht Flüchtlingen wohlgesonnener gegenüber. Präsident Yoweri Museveni, der das Land seit 31 Jahren zunehmend autoritär regiert, sei einst selbst ein Flüchtling gewesen, ist oft zu hören. „Jetzt sind sie es, das nächste Mal könnte ich es sein“, sagt Robert Eztay, der sein ganzes Leben lang schon in Ayiko lebt, das nun im Gebiet des Rhino Camps liegt, wie Imvepi in der Region Arua angesiedelt und nun Heimat von knapp 100.000 Flüchtlingen. Groß, schlank und ehrgeizig ist er. Ein einfacher Bauer, der acht Sprachen spricht.

Würde man sich ein afrikanisches Klischeedorf vorstellen, es würde so aussehen wie Ayiko. Strohdächer auf Lehmhütten, Ziegen laufen durch die Siedlung, an den Wäscheleinen trocknet buntes Gewand. Einheimische und Flüchtlinge leben hier Seite an Seite, profitieren voneinander, erzählt Eztay. Unter dem Schatten eines Baumes treffen sie sich heute für das wöchentliche Treffen des Sparvereins des kleinen Dorfs, organisiert von der NGO Zoa.

Das Geld wird für Notfälle gespart, Brände, Ernteausfälle oder Krankheiten. Eine kleine Absicherung in einem unsicheren Leben. Eztay ist dankbar für die Flüchtlinge, mit vielen bereits befreundet. „Egal, wo man mich hinsetzt, ich finde überall sofort Freunde“, sagt er.

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Aber die Dankbarkeit hat auch andere Gründe: „Ich habe viele Samen bekommen“, erzählt er. Zoa stellt sie nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch Einheimischen zur Verfügung. Mangos, Sesam, Auberginen und noch vieles mehr. Seine Äcker sind jetzt alle bestellt, die Pflanzen wachsen und gedeihen. Er deutet ans Ende eines Ackers. „Dort werde ich mir ein neues Haus bauen, von dem ich mein Land überblicken kann“, sagt er. Wenn für die Flüchtlinge Infrastruktur entsteht, Straßen gebaut werden und die Wasserversorgung ausgebaut wird, kommt das auch jenen zu Gute, die hier immer schon leben.

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Trotzdem hat auch Robert Eztay Angst. Die ethnischen Konflikte könnten auf Uganda überschwappen, fürchtet er. Im Südsudan kämpfen die Truppen von Präsident Salvar Kiir gegen Rebellen, seit Kiir seinen Vize-Präsidenten Riek Machar gefeuert hat, dem er einen Putschversuch vorwirft. Aber die Konflikte verlaufen auch anhand ethnischer Linien: Kiir gehört der größten südsudanesischen Volksgruppe der Dinka an; Machar ist Nuer. In den südlichen Provinzen des Südsudan, vor allem Yei, leben Kakwa; denen die südsudanesische Regierung vorwirft, auf Seiten der Rebellen zu sein. Aus der Provinz gibt es Berichte von Massenvergewaltigungen und Amada Dieng, UN-Sonderberater für die Prävention von Völkermord, warnte vor einem Genozid an den Kakwa in Yei.

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Nach Uganda flüchteten Kakwa genauso wie Nuer und Dinka; sie leben nun Seite an Seite. Im Rhino-Camp, erzählt Bauer Robert Etsay, leben die unterschiedlichen Ethnien nun in unterschiedlichen Zonen, weil es immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. In Bidi Bidi hingegen sollen sie lernen, miteinander zu leben. Es gibt „Community Watch Teams“, die Streitigkeiten lösen sollen; Gruppen aus unterschiedlichen Ethnien kochen und essen miteinander. Es funktioniert, sagt Bidi-Bidi-Leiter Baryamwesiga. Aber er weiß: Es reicht nicht. „Was wir hier anbieten, sind Schmerzmittel. Was wir nicht tun können, ist die Krankheit zu heilen.“ Den Konflikt zu lösen.

Redaktioneller Hinweis: Die Reise fand auf Einladung der Europäischen Union bzw. des Europäischen Amts für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz (ECHO) statt.

Text/Video:  Thomas Trescher

Schnitt:        Paul Batruel

Produktion:  Gizem Yazgan