Die Welle der Solidarität erfasste ein Dorf

Nickelsdorf

Immer wieder half die Bevölkerung Flüchtlingen, die vergangenes Jahr über die Grenze kamen.

Langeweile kommt bei Noureiddin  Hajali – kurz Nouri – selten auf. In seiner Heimat in Syrien hat er Wirtschaft studiert. „Und ich habe als Ersatzteilhändler gearbeitet“, sagt der 26-Jährige in passablem Deutsch. Im Juli des Vorjahrs ist Nouri aus seiner Heimat geflohen, gelandet ist er  in der burgenländischen Grenzgemeinde Nickelsdorf. Welches Aufsehen das 1700-Seelen-Dorf nicht nur für ihn, sondern in den kommenden Wochen in ganz  Europa haben würde, ahnte er damals  nicht. Dass er – selbst Flüchtling – ein- mal anderen Betroffenen helfen würde,  hat sich Nouri nicht erträumt.

"Viele hatten Wunden und Schmerzen, sie haben geweint"

In der Nacht auf 5. September kamen  die ersten Busse mit Flüchtlingen aus Ungarn  an. Einer der größten Hilfseinsätze des Landes begann.  Fast 300.000  Männer, Frauen und Kinder passierten   binnen weniger Wochen  die  Grenze an Österreichs östlichem Rand.

Sechs Wochen lang standen  Polizei, Rotes Kreuz, Sama- riterbund, Bundesheer sowie Hunderte freiwillige Helfer im Dauereinsatz. „Viele  hatten von der Flucht  Wunden und Schmerzen, sie haben geweint.  Ich habe den Ärzten übersetzt, wer welche Beschwerden hat“, erzählt Nouri. Als die Flüchtlinge Mitte Oktober ihre Route änderten und sich der Hotspot an das steirisch-slowenische Grenzgebiet  verlagerte, sei er sogar ein bisschen traurig gewesen. „Wir wollten hier in Nickelsdorf  weiterhel- fen.“ Die große Welle an Hilfsbereitschaft in der Ge- meinde  gefällt auch  Saif Alabdali. Auch er ist im Juli 2015 über Nickelsdorf nach Österreich gekommen – und er ist geblieben.   Am Bahnhof, wo auch viele von Saifs Landsleuten nach Wien weitergereist sind, habe er ge-

Nouri, Saif und Ahmed (v.li.) - mit Quartiergebering M. Falb - sind als Flüchtlinge gekommen und haben anderen geholfen.

dolmetscht. „Ich habe zu den Leuten gesagt, dass sie sich ruhig verhalten  sollen. Man- che hatten  Angst, dass sie zurückgeschickt werden“, sagt Saif. Wie Nouri wohnt Saif gemeinsam mit 23 anderen Asylwerbern in der Unterkunft von  Marianne Falb. Die Hausherrin ist bestrebt, dass sich jeder an die Regeln hält. Wichtig ist ihr  die Integrati- on ihrer Schützlinge: „Das Erlernen der deutschen Sprache ist da eine Grundvorausset- zung“, erklärt Falb. Nouri hat emsig gelernt,  „denn ich würde auch gerne in Österreich arbeiten“.

Eiserner Vorhang

Immer wieder haben die Nickelsdorfer  Flüchtlinge willkommen geheißen – egal, wel- cher Nationalität sie angehörten. Peter Limbeck, Historiker aus dem Ort, hat selbst zwei Mal „mitangepackt“. An die DDR-Flüchtlinge  1989  kann er sich gut erinnern; auch an das Leben am Eisernen Vorhang:  „Ich erlebe die Grenze seit 63 Jahren. Zu Zeiten des Stacheldrahts  bin ich eher nach Peking gekommen, als nach Bratislava. Das brauchen

Nickelsdorf war für fast 300.000 Flüchtlinge erstes Ziel. Von der Bevölkerung wurden sie versorgt.

"Wenn du diese Menschen siehst, dann kannst du nicht mehr weg. Da musst du einfach helfen"

Text von Claudia Koglbauer-Schöll

wir nicht mehr.“Frau der ersten Stunde war  im Herbst 2015 auch Ina Sattler. Tagsüber in der Gemeindestube beschäftigt, koordinierte  die zweifache Mutter in jeder freien Minute  die Verteilung der Hilfsgüter an die Flüchtlinge. 50 Tage und Nächte lang.  „Es waren schreckliche Bilder, die sich uns boten. Durchnässte

Menschen mit kleinen Kindern am Arm kamen an. Wenn du diese Menschen siehst, kannst du nicht mehr weg. Da musst du einfach helfen.“ Innerhalb eines Tages hat Sattler mit anderen Freiwilligen der Plattform „Nickelsdorf hilft“  die Erstversorgung der Flüchtlingen organisiert. Eine Infrastruktur wurde aufgebaut, in den  Bauhöfen des Dorfs wurden Regalsysteme für ein Spendenlager eingerichtet. Gemeinsam mit dem Roten Kreuz wurde  ein Organisationsplan entworfen. Unterstützung kam von der Orts- stellenleiterin des Roten Kreuzes, Magdalena Haas. Die  75-Jährige war selbst 1946 mit ihrer Familie aus Ungarn geflohen. In Nickelsdorf fand sie Unterschlupf. Im Vorjahr stand  sie bei der wohl größten Flüchtlingsbewegung an vorderster Front. „Ich war selbst einmal Betroffene, deshalb kann ich die Leute  verstehen“, sagt Haas. Den  Sta- cheldraht habe sie  wie auch Historiker Limbeck noch im Gedächtnis. Gebracht habe er nichts; die Menschen seien trotzdem über die Grenze gekommen. „Es gibt im Ort  kaum Stimmen, die wieder einen Grenzzaun fordern“, sagt Limbeck. Auch in einem anderen Punkt ist man sich  einig: „Wir würden wieder helfen, wenn wir gebraucht werden.“