Die Lehren der Toten

Der Wind pfeift eine schiefe Melodie durch das Gebäude. Das Licht flackert und lässt die Schatten zittern. Ein undichter Wasserhahn am Gang tropft stetig. Menschen in weißen Kitteln mit dunklen Flecken huschen durch die Gänge. Aber zuerst schlägt die Nase Alarm; es riecht chemisch, komisch, künstlich. Ist es hier wirklich so gruselig oder spielt einem das Gehirn einen Streich? Weil es weiß: Hinter jeder Tür könnte eine Leiche lauern. Oder zumindest regungslos auf einem Tisch liegen. Das 1886 errichtete Anatomische Institut der Medizinischen Universität Wien in der Währingerstraße ist ein besonderes Gebäude für all jene, die einmal Mediziner werden wollen: Hier arbeiten sie an echten Leichen. Sehen viel- leicht zum ersten Mal einen toten Menschen. Zerlegen ihn in seine Einzelteile.

Wolfgang Weniger leitet die anatomische Abteilung am Institut für Anatomie und Zellbio- logie, der Weg in sein Büro führt in den obersten Stock des Gebäudes; vorbei an der Büste des Anatomen Carl Toldt, vorbei am Warnhinweis, dass nach Paragraph 190 des Strafge- setzbuchs bis zu sechs Monate Haft auf Störung der Totenruhe stehen und vorbei am Ske- lett, das neben Weningers Bürotür baumelt. Gruselig findet er hier gar nichts und nach all den Jahren riecht er das Formalin, mit dem die Leichen konserviert werden, höchstens noch, wenn er aus dem Urlaub zurück ist. Das ist, wenn man den Geruch selbst gerade in der Nase hat, zwar fast nicht vorstellbar, aber er schwört, dass es stimmt.

An seinem Institut wird nicht nur gelehrt, sondern vor allem geforscht; unter anderem an Entwicklungsmorphologie und bildgebenden Verfahren, bis hin zur Elektronentomogra- phie, mit der 3D-Modelle im subzellularen Bereich erstellt werden können. Dagegen wirkt das Aufschneiden von Leichen geradezu altbacken – und an vielen Universitäten weltweit ist es auch nicht mehr üblich. Aber gerade weil Weninger alle diese Verfahren kennt, weiß er auch um deren Nachteile – und sieht es als große Errungenschaft, dass die Tradition des Sezierens in Wien noch aufrechterhalten wird.

Im sechsten Semester steht die Lehrveranstaltung „Organmorphologie 3“ im Kurrikulum. Unter Medizinstudenten ist klar, was sich hinter der Beschreibung verbirgt: Hand an einen toten Menschen zu legen. Aber woher kommen die Leichen? Im Erdgeschoss des Instituts befindet sich das Körperspende-Sekretariat, in dem sich Menschen anmelden können, die ihren Körper nach ihrem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Rund 1000 Perso- nen, erzählt Weninger, unterzeichnen pro Jahr das dafür nötige Formular und erhalten ei- nen Körperspendeausweis. Die Kosten für diesen Schritt belaufen sich auf 990 Euro – weit billiger als ein reguläres Begräbnis; aber wohl nur selten die Motivation. Verstirbt ein Kör- perspender, landet die Leiche so schnell wie möglich am Institut.

Von Studierenden seziert zu werden ist aber nicht der einzige Verwendungszweck für ge- spendete Körper: Wird er für wissenschaftliche Zwecke verwendet, kommt die Leiche di- rekt aus dem Kühlraum entweder auf einen Seziertisch oder wird beispielsweise für bild- gebende Verfahren eingesetzt. Eine andere Möglichkeit ist es, an der Leiche eine beson- ders schwierige Operation vorab zu testen. Jene Leichen, die für studentische Übungszwe- cke genutzt werden, lagern zunächst mindestens sechs Monate lang in Formaldehyd ein- gelegt im Keller des Institutes. Dabei sei es wichtig, dass die Leiche immer mit Flüssigkeit bedeckt ist, damit sie keimfrei bleibt und nicht zu schimmeln beginnt.

Ob Weninger selbst seinen Körper spenden will, hat er noch nicht entschieden. Aber es sei, selten aber doch, bereits passiert, dass ehemalige Mitarbeiter des Anatomischen Insti- tutes am Seziertisch lagen oder dass Studierende dort auf ihre verstorbenen Verwandten trafen – die dann natürlich nicht mehr an diesem Körper arbeiten.

Wie ja in Wien der Umgang mit dem Tod bekanntlich insgesamt ein relativ entspannter ist. Seinem Ruf als Welthauptstadt des Morbiden wird Wien auch in diesem Fall gerecht. Hier wurde, so jedenfalls die Legende, die Tradition der Leichwendfeier begründet – sie um- schreibt genau das, was man sich darunter vorstellt: Ein Besäufnis unter Studierenden, wenn die Leiche am Seziertisch umgedreht wird. Es ist wohl mehr eine Strategie, das Er- lebte zu verarbeiten als eine Pietätlosigkeit. Die Tradition sei entstanden, „um sich davon abzuheben und damit umzugehen“, sagt Weninger. Auch seitens des Institutes werden Ge- spräche mit jenen gesucht, die vielleicht im Umgang mit Leichen Probleme haben.

Im Seziersaal selbst, das Filmen ist dort aus Pietätsgründen untersagt, liegen 20 Leichen auf Tischen, 18 davon mit Tüchern bedeckt. Erst ganz am Ende des Raumes warten jene beiden, die gerade von den Studenten bearbeitet werden und abgedeckt sind. Es werden jeweils ein Mann und eine Frau gleichzeitig seziert. Mit Skalpellen legen die Studenten ge- rade die Faszien frei, das Bindegewebe. Daneben stehen zwei Mistkübel, auf einem steht: „Nur für Leichenteile“.

Die Haut der Toten wirkt ledrig, fast schon künstlich. Es ist ein bloßgelegter Mensch, der sich einem hier präsentiert. Die Haut teils aufgeschlagen, teils noch am Körper. Der Arm weggespreizt vom Körper, um ihn besser bearbeiten zu können. Einer der Studenten bear- beitet mit seinem Skalpell das Gesicht, in dem die Züge der Person, die einmal war, noch erkennbar sind. Ein schabendes Geräusch begleitet die Arbeit, die sonst in Stille ausge- führt wird, unterbrochen fast nur von den Erläuterungen Weningers.

Es ist kein schöner Anblick. Nicht unbedingt, weil hier ein toter Mensch liegt. Viel eher, weil der Mensch hier zur reinen Biologie reduziert ist, weil es kaum vorstellbar ist, dass das einmal ein lebendiges Wesen war, das atmete, träumte und hoffte. Und doch aus dem- selben Material ist wie wir.

Weninger nimmt den weggespreizten Arm der Leiche und greift an eine Sehne, im nächs- ten Atemzug macht er dasselbe bei seinem Studenten. Wer die Sehne einmal mit seinem Skalpell freigelegt hat, ertastet sie auch an seinem eigenen Körper – oder später einmal an dem der Patienten. Für viele ist es ein einschneidendes Erlebnis.

Text: Thomas Trescher

Video: Paul Batruel

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